WAK.2009-10-14

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Veranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen

»Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts« und Linkswende in Lateinamerika.
Was kann die europäische Linke vom Süden lernen?
am Mittwoch, 14. Oktober 2009, 18.00 Uhr, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Harkortstraße 10, 04107 Leipzig
mit Prof. Dr. Heinz Steffan Dieterich, seit 1976 Professor an der Universidad Autónoma Metropolitana mit einem Lehrstuhl für Soziologie in Mexiko Stadt, zeitweise informeller Berater des venezolanischen Präsidenten Hugo Chavez
Moderation: Dr. Peter Gärtner

Ankündigung

Zum Referenten:

Prof. Dr. Heinz Steffan Dieterich, geb. 1943 in Rothenburg (Wümme), studierte Sozial­wissenschaften in Frankfurt am Main u. a. bei Theodor W. Adorno und Max Horkheimer. Nach der Promotion in Bremen erhielt er 1976 eine Professur an der Universidad Autónoma Metropolitana mit einem Lehrstuhl für Soziologie in Mexiko Stadt. Dieterich gilt als einer der Protagonisten der neuen »Bremer Schule«, die sich hauptsächlich um eine gerechtere Welt­wirtschaftsordnung im Sinne einer Äquivalenzökonomie engagiert. Auf dieser Basis entwickelte er das Konzept eines »Sozialismus des 21. Jahrhunderts«, das von zahlreichen linken Politikern Lateinamerikas, so auch von Hugo Chávez, seit 1999 Präsident Venezuelas, aufgegriffen wurde.

Dieterich ist Autor von über 30 Büchern, von denen viele in verschiedenen Sprachen heraus­gegeben wurden (u.a. Chinesisch, Russisch, Englisch, Deutsch, Spanisch)

2006 erschien im Kai Homilius Verlag Berlin von ihm »Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Wirtschaft, Gesellschaft und Demokratie nach dem globalen Kapitalismus« (169 S., 9,90 Euro).

Quelle: http://www.rosa-luxemburg-stiftung-sachsen.de/seiten/vea-leipzig.html


Links:

Heinz Dieterichs Überlegungen zu einem "Sozialismus im 21. Jahrhundert" waren bereits 2006 unser Gegenstand, siehe

Ökonomische Konzepte für den Sozialismus im 21. Jahrhundert unter Nutzung fortgeschrittener Informationstechnologien. Einführung in die Thematik: Horst Müller (Nürnberg)

Weitere kritische Betrachtungen zu Dieterichs Überlegungen:

  • von Heiko Feldmann in Utopie kreativ 188 (2006), 566-569 (pdf)
  • von Carsten Schiefer in Z Zeitschrift für marxistische Erneuerung Nr. 66, Juni 2006.
  • von Siegfries Wenzel in Utopie kreativ 191 (2006), 811-822 (pdf)
  • von Joachim Tesch in Z Zeitschrift für marxistische Erneuerung Nr. 69, März 2007. (pdf)

Bericht und Nachbetrachtung

Große Namen sind auch in Leipzig Publikumsmagneten - mit etwa 80 Teilnehmern war die Veranstaltung sehr gut besucht und strapazierte die räumlichen und technischen Möglichkeiten der Leipziger RL-Stiftung bis an die Grenzen. Die Veranstaltung wurde gemeinsam organisiert vom - wie Prof. Kinner eingangs stolz verkündete - neu eingerichteten Lateinamerika-Arbeitskreis der Stiftung und dem Verein Quetzal Leipzig e.V.

Im Zentrum des Abends standen zwei Themenblöcke. Nach einem etwa 40-minütigen Einstiegsreferat des Gastes erfolgte zunächst eine Verständigung zum Thema "Sozialismus im 21. Jahrhundert" als dem von Dieterich eingeführten Konzept einer äquivalenzökonomisch und partizipatorisch basierten alternativen Ökonomie, das in der lateinamerikanische Diskussion durch die Aufnahme des Begriffs durch Hugo Chavez einige Beachtung gefunden hatte. Im zweiten Themenblock drehte sich die Diskussion um aktuelle Entwicklungen in Lateinamerika.

Die ökonomischen Thesen Dieterichs wurden schon früher hinreichend kritisiert, siehe die obigen Verweise. Es wurde schnell deutlich, dass diese Widersprüche in der Konstellation des Abends kaum zu diskutieren waren, so dass es bei einigen kleineren Vorstößen blieb, mit denen Diskutanten versuchten, besonders offensichtliche Fehlstellen anzusprechen. Dazu gehört die Frage nach Wertmaßen für kreative Tätigkeiten ebenso wie die nach den Wertbestandteilen, die für Struktur- und andere Investivmaßnahmen abzuzweigen sind, auf welcher Ebene wirtschaftlicher Tätigkeit auch immer. Die Erfahrungen des Realsozialismus gerade in der Steuerung dieser Prozesse spielen in Dieterichs Überlegungen bekanntlich keine Rolle - und so verliefen entsprechende Vorstöße auch an diesem Abend im Sande. Gleichwohl wurde noch einmal deutlich, dass Dieterich große Hoffnungen in die Erfassung gesamtwirtschaftlicher Prozesse mit ausgefeilten informationstechnischen Instrumenten setzt. Dass dies nicht primär ein technisches Problem ist, sondern hier wichtige Zielkonflikte schlummern, die mit adäquaten Kommunikations- und Entscheidungsstrukturen einer Lösung zugeführt werden müssen, ist Teil des unaufgearbeiteten realsozialistischen Erbes.

Zusammen mit der hohen Bedeutung von "Eliten" und "charismatischen Persönlichkeiten", die in Lateinamerika eine große Rolle spielen und die Dieterich unter klaren machttaktischen Aspekten einordnet, kommt Dieterich mit einer solchen IT-technischen Steuerung der Gesellschaft schnell in die Nähe eines neuen Avantgardekonzepts und eines "mechanistisch-materialistischen Gesellschaftsverständnisses", wie es im Potsdamer Manifest grundlegend kritisiert wird. Das fand an diesem Abend den größten Widerspruch gerade aus dem Kreis anwesender Indígenas, die einem solchen Durchgriff von Eliten - auch wenn sie es gut meinen - klassische indianische Ratschlagstrukturen entgegensetzen. In dem Zusammenhang wurde schnell deutlich, dass Dieterichs Theorie nicht "aus einem Guss" ist, da er den von dort kommenden Erfahrungsschatz zum einen hoch schätzt, andererseits die Wirkung indigener Einmischung für sehr beschränkt hält. Spannend in dem Zusammenhang Dieterichs Einschätzung von Hugo Chavez und der Kräfte, auf die sich der venozelanische Präsident stüzt - obwohl er den Begriff "Sozialismus im 21. Jahrhundert" aufgenommen hat, spielen für diese Gruppe aus Dieterichs Schaffen Elemente einer partizipatorischen Demokratie eine große Rolle, während die ökonomietheoretischen Versatzstücke nicht praktisch aufgenommen wurden.

Bereits Marx hatte festgestellt, dass der Kapitalismus die erste Produktionsweise ist, die ihre eigene Produktionsorganisation - technologischen Herausforderungen folgend - in größeren Perioden grundlegend umwälzt. Heute ist weitgehend klar, wie sich diese Kondratjew-Wellen in der geschichtlichen Entwicklung manifestieren. Die Hoffnungen, die Dieterich mit der IT-gestützten gesellschaftlichen Steuerung von Prozessen verbindet, sind zugleich eine grundlegende Herausforderung auch an die kapitalistische Gesellschaft, der sich alle Unternehmen bei Strafe ihres Untergangs "am Markt" stellen müssen. Es bleibt also abzuwarten, ob diese Umwälzungen zu einem "Sozialismus im 21. Jahrhundert" führen werden oder - und alle historische Erfahrung spricht dafür - die kapitalistischen Gesellschaft auch diesmal einen radikalen Umbau zu vollziehen vermag. Die vehementen Angriffe auf überkommene Urheberrechtsvorstellungen durch Open Source, Google und Wikipedia, Open Access und das Google Scholar Projekt innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft - Prozesse weit jenseits von Dieterichs Aufmerksamkeit - legen beredtes Zeugnis von diesen Auseinandersetzungen ab. Im Sinne der Debatte um "Kommunismen" als zeitspezifische Elemente überschießender Utopie in Zeiten tiefer technologisch geprägter kapitalistischer Umbruchprozesse - dessen Zeuge wir derzeit zweifelsohne sind - bleibt zu fragen, ob Dieterichs "Sozialismus im 21. Jahrhundert" nicht genau eine solche Kommunismus-Utopie einer aufstrebenden Informationsgesellschaft (nennen wir die heraufziehende neue kapitalistische Ordnung der Einfachheit halber mal so) ist.

Wendet man sich den praktischen Entwicklungen in Lateinamerika zu, so fällt ein zweites Moment ins Auge: Die hohe Bedeutung einzelner charismatischer Persönlichkeiten erinnert an Entwicklungen vor 80 Jahren in Europa, die auch den spezifisch-technischen Strukturen des "Ein Kopf und tausend Hände" der Fließbandgesellschaft geschuldet sind - eine Gesellschaftsform, die in den letzten Jahrzehnten aus den Metropolen der westlichen Welt zunehmend an die Peripherien "diffundiert" ist. Die ökonomische Ungleichentwicklung der Welt wirft die Frage auf, ob der Dieterich'sche Sozialismus nicht doch letztlich ein "Sozialismus des 20. Jahrhunderts" wäre. Praktisch hat diese Frage, wie gesagt, keine wirkliche Bedeutung, da auch in Lateinamerika niemand bereits zu sein scheint, ein neues Experiment einer zentral gesteuerten Wirtschaft zu wagen.

Hans-Gert Gräbe, 15.10.2009