HGG.2012-09-09

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HGG.Kommentare

Alternative Thesen zur Allmende

Wie sich Commons entfalten können. Unter diesem Titel hat sich eine Arbeitsgruppe auf der Commons-Sommerschule 2012 entschlossen, die 20 Jahre alte Thesen von Elinor Ostrom zu acht Commons-Prinzipien neu zu formulieren.

In den folgenden "Alternativen Thesen" versuche ich einen rohen Gegenentwurf, der sich auf die Geschichte der Allmende im deutschsprachigen Raum bezieht, wie sich mir jene Geschichte darstellt.

1. Die "Allmende alter Art" war ein komplexes reproduktives System, in dem sich die Widersprüchlichkeit der Zielstellungen anthropogenen Handelns auf verschiedenen Zeitskalen innerhalb eines abgegrenzten Territoriums prozessierte. Die Vielfalt der Dienstbarkeiten - Halb- und Viertelspänner, Handdienstbarkeiten usw., vgl. etwa (Deich 2006) - konstituierte einen Kosmos praktischer Leistungsfähigkeit und sozialer Beziehungen, dessen Reproduktion als Teil der Reproduktion dieser "Allmende alter Art" zu betrachten ist. Siehe dazu etwa auch (Buchheim 2003).

2. Die Widersprüchlichkeit selbst der gesamten Zielstellungen anthropogenen Handelns bildet dennoch nur einen Teil der komplexen realweltlichen Zusammenhänge ab und kann einen solchen Horizont - aus prinzipiellen epistemologischen Erwägungen - auch nicht überschreiten.

3. Der als "Privatisierung der Allmende" bezeichnete schrittweise Auflösungsprozess dieser reproduktiven Strukturen spätestens ab Mitte des 19. Jahrhunderts, siehe etwa (Buchheim 2003), wird durch eine Reihe technologischer Entwicklungen begleitet, die mehrfache (!) Umbrüche in der Technologie landwirtschaftlicher Bodenbearbeitung mit sich brachten, die einzelnen "langen Wellen" zugeordnet werden können und mit ihnen in engem Zusammenhang stehen. Die Umbrüche in der Struktur der Bewirtschaftung der Allmende sind ohne Bezug auf diese technologischen Wandlungsprozesse nicht zu verstehen.

4. Dies waren im Schlepptau des "Stahl-Kondratieff" in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts der massenweise Einzug stählerner Bodenbearbeitungswerkzeuge sowie mechanischer Konstruktionen zur Zurichtung und Sortierung landwirtschaftlicher Produkte (deutlich dargestellt im Vogtländischen Freilichtmuseum Landwüst, http://www.museum-landwuest.de). Die Landvermessungen, siehe noch einmal (Deich 2006), beginnend bereits in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts, werden konsequent weitergeführt und in einen Berechnungsprozess der Tragfähigkeit der Allmende einbezogen, auf dessen Basis politisch-administrativ auf die demografische Entwicklung reagiert wurde, da die traditionelle Regulationskraft der "Sitte" mit den Umbrüchen an Wirksamkeit verlor (ebenfalls W. Deich, der anderenorts auch den Beitrag von C.F.Gauß an diesen quantitativen Schätzungen im Hannoveraner/Braunschweigschen Staatswesen jener Zeit herausarbeitet). Der "überschüssige Bevölkerungstanteil" wurde zur Auswanderung gedrängt (siehe etwa Kolonisierung von Moorgebieten http://moormuseum-moordorf.de oder die Ausstellung im Auswandererhaus Bremerhaven http://www.dah-bremerhaven.de).

5. Mit der Verfügbarkeit mobiler Antriebstechnik nach dem "Maschinen-Kondratieff" kam es (erst!) in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts zur großflächigen Ersetzung tierischer und menschlicher Muskelkraft durch Maschinen. Dieser Prozess (schön die alten unhandlichen Lanz Bulldog der 1920er Jahre im Museum Landwüst) findet (erst!) seit Ende der 1940er Jahre im weitgehenden Verschwinden eines seit vielen Jahrhunderten existierenden abhängigen bäuerlichen Sozialgefüges (Knechte, Mägde, Gesinde, Kätner, Tagelöhner usw.) seinen Abschluss. Übrig bleiben ein Agrarproletariat der großen "Agrarfabriken" einerseits sowie klein- und mittelbäuerliche Familienbetriebe andererseits. In der Problematik argarindustrieller Produktion (etwa http://www.oya-online.de/article/read/590.html) tritt die Krise der Industriegesellschaft heutzutage am deutlichsten zu Tage.

6. Mit dem Ersatz menschlicher Muskelkraft durch technische Apparaturen brechen auch die bisherigen Strukturen der Reproduktion agrartechnischen Knowhows zusammen - die "Träger menschlicher Muskelkraft" brachten nicht nur die "Verausgabung einfacher Arbeitskraft, die im Durchschnitt jeder gewöhnliche Mensch, ohne besondere Entwicklung, in seinem leiblichen Organismus besitzt", in den bisherigen Prozess ein, sondern auch ihr Wissen um Zusammenhänge. Die sie ersetzenden, anderweitig bewährten handwerklich-ingenieurtechnischen "wissenschaftlichen" Ausbildungs- und Vermittlungsformen erweisen sich als unterkomplex bzgl. der Reproduktion des traditionellen agrotechnischen Knowhows. Auch hier zeichnen sich seit den 1960er Jahren zwei Wege ab - ein technisch-industrieller, der unter Nutzung der "Errungenschaften" des "chemisch-elektrischen Kondratjeff" das traditionelle Wissen um biologische Zusammenhänge durch Anwendung mechanisch-chemisch-biochemischer Verfahren ersetzen will, und der Weg der konsequenten Verbalisierung klassischen biologisch-agrotechnischen Knowhows, um dieses Wissen in die Reproduktionsform eines Open Space des modernen Wissenskommunismus zu überführen und so auch unter den neuen Bedingungen einer sich herausbildenden Noosphäre praktisch verfügbar zu machen. Ein solches Ziel verfolgt etwa die Zeitschrift OYA.

7. Zusammenfassend: Mit zunehmend komplexeren technischen Artefakten erhöhte sich die "Macht des (anthropogenen) Worts" um ein Vielfaches und ließ auch im Bereich der Bewirtschaftung der Allmende das Gefühl einer "Beherrschung der Natur" und ein Ausbeutungsverhältnis zur Natur dominant werden. Ein solches Verhältnis aber ist der Industriegesellschaft heutiger Prägung eingeschrieben. Dieses Verhältnis allein auf das Kapitalverhältnis zu reduzieren, greift deutlich zu kurz und steht einer humanen Auflösung der Widersprüche eher im Weg. Insbesondere handelt es sich nicht um _ein_ Phänomen kapitalistischer Entwicklung schlechthin, sondern um verschiedene Phänomene _spezieller_ Phasen kapitalistischer Entwicklung. Gegenüber einer technologisch getriebenen Einteilung der "K-Wellen" finden die entsprechenden technosozialen Umwälzungsprozesse in der Landwirtschaft allerdings regelmäßig wenigstens "einen Kondratjeff später" statt.

8. Es ist Teil des Geldfetischs, das Nachdenken über die erforderlichen Wandlungsprozesse auf die Überwindung des Geldfetischs und damit negativ auf den Geldfetisch selbst zu beziehen.

9. Für die Commons-Debatte gilt ähnlich wie für die Rekommunalisierungs-Debatte (etwa http://www.vku.de/energie/unternehmensstrategien/rekommunalisierung.html oder http://kommunalverwaltung.verdi.de/themen/rekommunalisierung): Es geht um Strukturen, in denen die Widersprüchlichkeit der Entfaltung von Sein auf eine Weise aufgehoben werden kann, dass sie sich einerseits (auch) der modernen ingenieurtechnischen Errungenschaften bedienen kann und andererseits die Grundlagen und Bedingtheiten menschlicher Existenz in all ihren Wirkdimensionen sichert. Die eine Seite ist ohne die andere nicht zu haben. Die Krise der Industriegesellschaft ist ein zeitkritisches existenzielles Problem, das ohne den freizügigen Zugriff auf alle Wissensschätze der Menschheit nicht in den Griff zu bekommen ist. Zu diesen gehören auch die strukturellen Erfahrungen und kulturellen Errungenschaften kapitalistischer Gesellschaften.