WAK.Debatte.2009-05-26-FK

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Quelle: http://groups.google.de/group/wak-leipzig/msg/ae1fc4b68dca8c93

Ich habe letztens etwas Interessantes von Thomas Kuhn gelesen ("Die Struktur der Wissenschaftlichen Revolutionen")

Ihr als alte Revolutionstheoretiker seid mir da sicher schon etwas voraus in dem Thema, aber dennoch kurz meine Gedanken dazu, auch wenn es vielleicht für euch nichts Neues sein mag.

Wenn man Kuhns Hauptprämisse weg lässt (um jeden Preis jede Art von Metaphysik abzulehnen) lässt sich seine Theorie, etwas variiert, gut verwenden.

(HM-1) Ich bin zwar neu auf dem Gebiet der "Revolutionstheoretiker", aber ich möchte deinen Gedanken trotzdem gerne kommentieren. Um diesen aber richtig zu verstehen, musst du nochmal deutlich erklären, was dich an dem riesigen Begriffsfeld der "Metaphysik" so stört. Was ist an Kuhns Hauptprämisse metaphysisch?

Demnach herrschen in Wissenschaftler-Gemeinschaften bestimmte Paradigmen, die diese Gemeinschaften konstituieren. Kommen diese Paradigmen z.B. aufgrund neuer Erkenntnisse, logischer Widersprüche, etc. in eine Krise, werden - unterstützt durch einen Generationswechsel - neue Paradigmen aufgestellt. Da aber aufgrund der Vorgabe "die Sprache bestimmt das Weltbild" die neue Theorie in die alte nicht zu übersetzten ist, findet keine Evolution, sondern eine Revolution statt.

(HM-1) Das wenige, was ich von Kuhn weiß, besagt aber, dass er es war, der den Begriff des Paradigmas in die Wissenschaft hineingetragen hat. "Die

Existenz eines Paradigmas ist für Kuhn ein Zeichen reifer Wissenschaften, es ist allerdings nicht ein notwendiges Kriterium für Wissenschaftlichkeit." sagt mir bspw. Wikipedia.

(HM-1) Ich denke, ob ein wissenschaftlicher Standpunkt durch eine Evolution oder eine Revolution stattfindet, hängt davon ab, ob der entsprechenden

wissenschaftlichen Disziplin nicht-wissenschaftliche Interessen anhängen. Um mal zwei blöde Beispiele zu nennen: Das Paradigma, die Erde sei eine Scheibe, hat ein öffentliches/religiöses/philosophisches/astronomisches Interesse; dass Orang-Utans nachtaktiv sind, ein eher wenig gewichtiges - und deswegen kann ersteres Paradigma nur revolutioniert werden, während das zweite eine Evolution erfahren könnte.

(HM-1) Die Krise bei evolutionsfähigen Wissenschaften wäre dann der methodische Zweifel.

Soweit Kuhn. Ich finde aber, dass durchaus Übersetzung auch unter der Vorgabe "die Sprache bestimmt das Weltbild" möglich ist. Solange man sich auf etwas Metaphysik einlässt, dass allen Menschen etwas eigen ist, dass sie Menschen sind z.B. (vgl. Descartes). Aber richtig; Übersetzungen zweier verschiedener Sprachen bedarf etwas Drittes, Vergleichendes. In der Physik kann das die Mathematik sein, in der Wissenschaft die Ethik, etc.

(HM-1) Das Paradigma, dass die Sprache unser Weltbild bildet, würde ich noch verschärfen und behaupten, dass sie unser gesamtes Bewusstsein bildet - aber das Thema gehört nicht in diese Diskussionsgruppe...

Jetzt kommt etwas Luhmann ins Spiel. Geht man von verschiedenen Systemen (ich nenne sie Stränge) in der Gesellschaft aus, dann kann man während einer Revolution in einem Strang, mittels der anderen Stränge kommunizieren (die Theorie durchaus im Gegensatz zu Luhmann, der von der Abgeschlossenheit der Systeme ausging und einer ausschließlich internen Kommunikation). Diese Revolutionen in den Strängen sind Mikro-Revolutionen (vgl. HGG). Treten aber mehrere Mikro-Revolutionen gleichzeitig auf, kann es zu einer Makro-Revolution kommen, die die gesamte Gesellschaft betrifft, da nicht genügend "intakte" Stränge vorhanden sind, um eine gesamtgesellschaftliche Kommunikation stattfinden zu lassen.

(HM-1) Ich wäre da skeptisch. Gerade aufgrund des Fakts, dass die Kommunikation nur innerhalb von Mikro-Revolutionen funktioniert, ist es unwahrscheinlich, dass eine organisierte Makro-Revolution auf Basis der Mikro-Revolutionen stattfindet. Ich glaube Makrorevolutionen sind ausschließlich inszeniert.

Meiner Meinung nach befinden sich mehrere Stränge gegenwärtig in einem Revolutionsprozess bzw. in einer Krise. Das ist eine Wirtschaftskrise, eine Wissenschaftskrise, eine Kulturkrise, und eine Demokratiekrise. Dies müsste zwangsläufig in eine Makro-Revolution münden.

(HM-1) Es müsste zwangsläufig bald wieder eine Makro-Revolution inszeniert werden, richtig.

Ich finde es daher wenig sinnvoll darüber zu spekulieren, warum DIE LINKE nicht von "der Krise" profitiert, wenn sie durch die Krise aufgelöst wird, insofern es sich um die Partei handelt. Das gegenwärtige System ist durch parteiendemokratischen Parlamentarismus geprägt. Eine Krise und daraus resultierende Revolution dürfte dieses System nicht überstehen.

(HM-1) "dieses System" wird durch die "nächste" Revolution nur weiter gefestigt.

Auch auf die Gefahr des Eklektizismus hin; Lässt sich Hannah Arendts Erklärung für Antisemitismus (Für Antisemitismus finde ich ihn wenig geeignet, aber auf die Politikerkaste bezogen, ist er hinreichend gut. Vgl. "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft") verwenden. Demnach wird nicht gehasst, was Reichtum besitzt, sondern was Reichtum besitzt und keine dazugehörige Macht. Auf Politiker/Parteien trifft dies zu, sie profitieren materiell von dem jetzigen System, geben aber immer und überall zu verstehen, dass sie keine Macht haben, sei es aufgrund der berühmten Sachzwänge, oder weil sogenannte Experten von den Spezialgebieten ohnehin mehr Ahnung haben. Politiker entmachten sich permanent selber und werden so als parasitär wahrgenommen. Die Konsequenz wäre die Abschaffung des parteiendemokratischen Parlamentarismus.

(HM-1) Herrschaftsgebilde, wie sie sich politisch und wirtschaftlich darstellen sind in meinen Augen Komplementärbilder menschlich/instinktiver Sozialordnung - und damit so, wie sie jetzt sind (und in den letzten Jahrhunderten waren) perfekt.

Soweit, und danke an die die es durchgehalten haben bis hierher zu lesen.

Flori, 26.05.2009


Kommentare dazu:

Dass mich das Thema "Wie geht Fortschritt?" (was ja Kuhn paraphrasiert ist) schon lange bewegt muss ich nach Dahlen wohl nicht extra betonen. Ich fände es ebenfalls spannend, wenn wir die Fixiertheit auf die Reflexion - bzw. wohl eher Nichtreflexion, siehe meinen Aufsatz "Wissenschaftspolitik - der blinde Fleck der Linken(dot)" - solcher Themen in der Linkspartei hinter uns lassen könnten.

Hans-Gert Gräbe, 26.05.2009 - http://groups.google.de/group/wak-leipzig/msg/114e35c1cbe7f1ef

Links:


(HM-1) Herbert Maschke, 27.05.2009 - http://groups.google.de/group/wak-leipzig/msg/114e35c1cbe7f1ef


Noch zwei inhaltliche Anmerkungen:

(1) Die Sache mit den Sprachen ist nach meiner Auffassung deutlich komplizierter. Wir haben uns im letzten Semester im Seminar "Wissen in der modernen Gesellschaft" http://www.dorfwiki.org/wiki.cgi?HansGertGraebe/SeminarWissen/WS08 dieser Frage von einer anderen Seite genähert, der Frage nach dem Charakter von Information und Informationsprozessen. Dort spielt klassisch die Trias von Syntax, Semantik und Pragmatik eine Rolle, die wir um eine vierte Ebene "Hermeneutik" erweitert haben. Dabei stellt sich heraus, dass stets *zwei* Sprachsysteme beteiligt sind, denn Pragmatik/Hermeneutik ist die Syntax/Semantik auf der nächsthöheren Ebene. Das ist in der Wissenschaft sicher nicht anders. Hier passieren also nicht nur horizontale Übersetzungsprozesse a la Luhmann (von einer Sphäre in eine andere), sondern auch vertikale.

Ich kann das hier nur andeuten, wäre mal genauer drüber zu diskutieren.

(2) Die Krise des parteiendemokratischen Systems sehe ich durchaus ebenfalls. Dahinter steht aber die Steuerung von Gesellschaft über Geldströme in dem Sinne, wie ich das versucht habe, in Dahlen zu erläutern. Dahinter steckt aber - in *dieser* Gesellschaft - das Funktionieren von Fortschritt schlechthin.

Auch hier die Frage, ob das System abgeschafft gehört oder allein die archaische Form, in welcher es sich bewegt.

Hans-Gert Gräbe, 26.05.2009 - http://groups.google.de/group/wak-leipzig/msg/8af07f80cd74e03c