HGG.2018-10

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HGG.Kommentare

Marxismus und Anarchismus. Anmerkungen zu Heft 2/2018 der "Berliner Debatte Initial".

Die "Berliner Debatte Initial" widmet Heft 2/2018 dem ehrenvollen Anliegen, den (meist blutigen) Spuren des Verhältnisses von Marxismus und Anarchismus nachzuspüren. Es werden besprochen

  • Marx, Bakunin und die Staatsfrage
  • Marx und Proudhon in den 1840er Jahren
  • Marx, Proudhon und das liebe Geld
  • Blanqui
  • Engels als "Anarchist im Herzen"
  • Marxismus und Anarchismus 1872 bis 1914
  • Gustav Landauer
  • Chaim Arlosoroff

Die Leerstellen sind mit Händen zu greifen, selbst gegen den 1970 erschienenen Klassiker "Anarchismus. Theorie, Kritik, Utopie", der wenigstens noch den blutigen Auseinandersetzungen mit dem Anarchismus unter der jungen Sowjetmacht sowie in der spanischen Republik einigen Platz einräumte. Vergebens sucht man nach dem "Präanarchisten Stirner" (so der Leipziger Philosoph Siegfried Bönisch über Stirner im Freudjahr 2006) und den Auseinandersetzungen mit diesen Ansätzen in der "Deutschen Ideologie" (dazu etwa HGG.2018-03 oder meine Anmerkungen im Heft 115 der Zeitschrift Z) oder dem "für einen weiteren Luxemburgpreis" (Mocek, 2013) vorgeschlagenen Wilhelm Weitling.

Das Thema ist in der Tat selbst in seiner historischen Dimension komplex, wie zwei so konträr aufgestellte Publikationen wie

zeigen.

Wirklich bedauerlich ist allerdings die komplette Ignoranz der Herausgeber des Hefts gegenüber aktuellen Diskussionen um anarchistische Ansätze in neuen Formen der Organisation der Arbeit im Kontext moderner Technologien, wie sie nicht nur von Eben Moglen bereits 1999 geführt wurden. Hier rächt sich die traditionsmarxistische Abstinenz gegenüber modernen Technikentwicklungen, zu denen man ja wenigstens einen adäquaten Technikbegriff im Geiste des von Marx hinterlassenen "Maschinenfragments" weiterentwickeln müsste. Die beiden Aufsätze von Peter Seyfarth und Jürgen Leibiger in BDI 2/2018 arbeiten sich ein weiteres Mal an wohlfeilen traditionsmarxistischen Argumentationsmustern zu Arbeit und Eigentum ab ohne jedes Verständnis für die Paradoxa, in welche sich der Eigentumsbegriff mit der Digitalisierung schon vor 20 Jahren hineinbewegt hat. Paradoxa als dialektische Widersprüche im Hegelschen Sinne, die Praxisformen prägen und ihre "Auflösung" nicht in einem Entweder-Oder finden.

Jürgen Leibiger schreibt

Mensch-Sein als gesellschaftliches Wesen, Arbeit als gesellschaftliche Aneignung der Natur und menschliche Beziehungen der Zuordnung, der Verfügung und der Aneignung einzelner Naturelemente bilden eine unauflösliche Dreieinigkeit ... die für Marx so selbstverständlich war, dass er sie als "Tautologie" bezeichnete.

Nein, es geht um den Prozess der Mensch-Werdung im Sinne der 10. (!) Feuerbachthese, nicht (nur) um "Arbeit als gesellschaftliche Aneignung der Natur", sondern darum, "dass die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muss. ... Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefasst und rationell verstanden werden." Die "unauflösliche Dreieinigkeit" muss auf jedem technologischen Level neu gewonnen werden, auch in jeder anderen gesellschaftlichen Ordnung, und immer wieder stehen wir vor der Herausforderung, dabei "alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist."

Hans-Gert Gräbe, 06.10.2018