WAK:2007-03-22: Unterschied zwischen den Versionen

Aus LeipzigWiki
Zur Navigation springenZur Suche springen
Zeile 20: Zeile 20:
Mit gut 50 Hörern hatte diese gemeinsam mit dem Stirner-Archiv Leipzig
Mit gut 50 Hörern hatte diese gemeinsam mit dem Stirner-Archiv Leipzig
organisierte Veranstaltung von WAK-Leipzig eine unerwartet große Resonanz.
organisierte Veranstaltung von WAK-Leipzig eine unerwartet große Resonanz.
Nach den [http://www.hg-graebe.de/WAK-Leipzig/2006-10-18.html | Querelen im
Nach den [http://www.hg-graebe.de/WAK-Leipzig/2006-10-18.html Querelen im Vorfeld] um die Einladung von Fritz-Erik Hoevels war das kaum zu erwarten
Vorfeld] um die Einladung von Fritz-Erik Hoevels war das kaum zu erwarten
gewesen, zeigt aber, dass wir mit Thema und Referent offensichtlich einen Nerv
gewesen, zeigt aber, dass wir mit Thema und Referent offensichtlich einen Nerv
der heutigen Zeit getroffen haben.
der heutigen Zeit getroffen haben.

Version vom 23. März 2007, 22:34 Uhr

Marxismus und Psychoanalyse.
Der sekundäre Krankheitsgewinn als Scharnier zwischen den Funden Marx' und Freuds.
mit Dr. Fritz Erik Hoevels (Freiburg)
Gemeinsame Veranstaltung der Gesprächskreises WAK Leipzig und des Stirner-Archivs Leipzig im Rahmen der Buchmesse
22. März 2007, 20:00 Uhr, Haus der Demokratie, B.-Göring-Straße 152

Ankündigung

Die Quintessenz der Veranstaltung "Marxismus und Psychoanalyse - 100 Jahre Siegmund Freud" des philosophischen Arbeitskreises der RLS Sachsen mit Siegfried Kätzel und Walter Friedrich am 23.5.2006 nach über zwei Stunden Referat und Diskussion lautete (u.a.): Man müsste nun wirklich mal über Marxismus und Psychoanalyse sprechen. Ein Thema, das deutlich über Marx und Freud hinausgehen müsste, die - aus zu analysierenden Gründen - jeweils an der Grenze stehengeblieben sind. Die stringenteste Analyse dieses Phänomens wird wohl in Hoevels Klassiker "Marxismus, Psychoanalyse, Politik" (Ahriman-Verlag, Freiburg 1983) gegeben, in dem die Brücke zwischen Marxismus und Psychoanalyse in konsequenter Fortsetzung von Ansätzen aus den fruchtbaren Jahren Wilhelm Reichs weitergebaut wird. In "Wilhelm Reichs Beitrag zur Psychoanalyse" (Ahriman Verlag, Freiburg 2001) wird das Thema durch Hoevels weiter vertieft. Dass bei einer Thematik mit solcher Sprengkraft - immerhin geht es um die Suche nach den Wurzeln innerer Widerständigkeit - Animositäten und Irritationen nicht ausbleiben, mussten wir im Zuge einer ersten Einladung im Oktober 2006 erfahren. Umsomehr freuen wir uns, im nunmehr zweiten Anlauf mit dem Gast aus Freiburg ins hoffentlich fruchtbare Gespräch zu kommen. (Hans-Gert Gräbe)


Der primäre Krankheitsgewinn (bei der Störung bzw. Leistungsminderung psychischer Funktionen) ist einförmig: das "Überich" gibt Ruhe bzw. lässt in seiner Aggression nach. Der sekundäre ist vielfältig: die Gesellschaft kann psychische Störungen (z.B. religiösen Glauben) gezielt bzw. strukturell "belohnen", meist negativ (durch unterlassene Verfolgung oder Belästigung). Auf diese und ähnliche Art enstehen Ideologien durch "Memselektion".

Die "Theorie der kognitiven Dissonanzreduktion" des Psychologen Festinger erlaubt uns weitere Einsichten in die Entstehung, vor allem aber Funktion der Ideologie. Sie dient der standardisierten KDR-Bahnung in ihren Zwangsempfängern und gewinnt so erheblich an Durchschlagskraft; die bewaffnete Gewalt zur Aufrechterhaltung ungerechter Herrschaft würde andernfalls fast unbezahlbar. (Fritz Erik Hoevels)

Bericht

Mit gut 50 Hörern hatte diese gemeinsam mit dem Stirner-Archiv Leipzig organisierte Veranstaltung von WAK-Leipzig eine unerwartet große Resonanz. Nach den Querelen im Vorfeld um die Einladung von Fritz-Erik Hoevels war das kaum zu erwarten gewesen, zeigt aber, dass wir mit Thema und Referent offensichtlich einen Nerv der heutigen Zeit getroffen haben.

Fritz-Erik Hoevels, bekannter Autor psychoanalytischer Literatur in der unverfälschten Tradition von Siegmund Freud und Wilhelm Reich und über dreißigjähriger Erfahrung aus eigener psychotherapeutischer Praxis, ist allerdings auch wie kaum ein anderer prädestiniert, die subtilen Beziehungen, Querverbindungen und Berührungsprobleme zwischen Marxens Gesellschaftsanalyse und Freuds Psychoanalyse herauszuarbeiten und das "Scharnier" zwischen beiden - ihre gemeinsame und sich gegenseitig ergänzende ideologiekritische Potenz - im Phänomen des sekundären Krankheitsgewinns zu beschreiben.

Die Herleitung dieser Verbindung stand auch im Mittelpunkt des Vortrags, wobei Hoevels zunächst das Phänomen der kognitive Dissonanzreduktion nach Festinger ausführlich erläuterte. Es geht dabei um die Verarbeitung von zwei unmittelbar miteinander verbundene Wahrnehmungen (Kognitionen), deren Bewertungen sich widersprechen und damit ein Gefühl des Unbehagens auslösen. Funktional ist ein solches Gefühl wohl ein vorbewusster Reflex auf eine mögliche Gefahr, die oft aber nur in der Phantasie existiert. Wenn derartige Dissonanzen nicht aktiv aufgelöst werden oder werden können, kommt es zur Verdrängung der weniger dominanten Wahrnehmung. Hoevels' instruktives Beispiel sei hier kurz reproduziert: Zwei Gruppen von Arbeitern werden über eine längere Zeit mit unangenehmen Arbeiten beauftragt, die eine gut, die andere sehr schlecht bezahlt. Dann wird über eine Fragebogenaktion die Zufriedenheit mit der Arbeit erfasst. Es stellt sich (empirisch gut belegt) heraus, dass sich die zweite Gruppe als zufriedener bezeichnet. Da die Wahrnehmungen der ersten Gruppe nicht dissonant sind (schlechte Arbeit, dafür aber gut bezahlt), tritt der Verdrängungseffekt nicht ein. Die zweite Gruppe dagegen ist mit dissonanten Wahrnehmungen (unangenehme Arbeit, aber keineswegs gut bezahlt) konfrontiert und verdrängt die leichter zu verdrängende Wahrnehmung - sie redet sich die Arbeitsbedingungen schön.

Diese Art der immer wieder auf dieselbe Weise zu erlebenden Verdrängung wird als "primärer Krankheitsgewinn" bezeichnet, denn er führt zu einer psychichen Entlastung unter für das Individuum unangenehmen Rahmenbedingungen, indem innere Spannungszustände auf diese Weise reduziert werden, auch wenn es vielleicht langfristig sinnvoller wäre, durch Einsatz des Verstands diese Rahmenbedingungen zu ändern. Eine insbesondere machtförmig strukturierte Gesellschaft hat nun auch eine Vielzahl aüßerer Mechanismen entwickelt, um genau eine solche "Renitenz" zu unterbinden, indem an Erwartungen angepasstes Verhalten eher belohnt wird, derart angepasste Menschen größere soziale Möglichkeiten eingeräumt bekommen, bei Beförderungen bevorzugt werden usw. Verdrängen wird also durch soziale Mechanismen belohnt, obwohl dies inhärent von einer wirklich menschlichen Gesellschaft wegführt, und verstärkt der Verdrängungsmechanismen. Die Gesellschaft klopft dem weniger Renitenten noch auf die Schulter und beschert ihm auch einen "sekundären Krankheitsgewinn".

Dies führt schließlich dazu, dass größere Bereiche der eigenen Psyche dem "Ich", der bewussten verstandesgemäßen Analyse, entzogen werden, in ein unbewusstes "Es" abbröckeln und diese Keime von Renitenz durch von außen hineingetragene und verinnerlichte "Über-Ich"-Sätze zuverlässig vor einer Revitalisierung geschützt sind. Es handelt sich dabei um ein mächtiges Gesellschaft stabilisierendes Element, das auf der Seite von Marxens Gesellschaftsanalyse Gegenstand der Ideologiekritik ist. Allerdings wird an dieser Stelle schon deutlich, warum Ideologiekritik praktisch weitgehend wirkungslos bleibt, wenn sie vor allem an den Verstand appelliert.

In eigenartiger Diskrepanz zu den stringenten Ausführungen des Referenten und dem Interesse an der Thematik, welches sich schon allein in der Besucherzahl dieser von uns nur mäßig beworbenen Veranstaltung dokumentiert, stand die doch nur spärlich tröpfelnde Diskussion. Sicher sind es ungewohnte Gedankengänge, die ein Spotlicht in die Tiefen auch der eigenen Seele richten, wo es seine Zeit braucht, um sich überhaupt erst einmal zu orientieren. Wir wollen deshalb im Rahmen von WAK Leipzig auch weiterhin an der Thematik dran bleiben.

Dass die wenigen Diskussionsansätze dann auch noch im Keim steckenblieben, hat allerdings auch mit den Antworten des Referenten zu tun, die eine Sicherheit ausstrahlten, die kaum Ansätze der Ambivalenz von Urteilen erkennen ließen und solche Töne bei den Nachfragenden nicht wirklich ernst nahmen. Kurz, wo dialogisch hätte geredet werden sollen, wurde weitgehend aneinander vorbei geredet, obwohl man sich in wichtigen Punkten eigentlich einig war. Aber gerade die Differenzen in der Einheit lassen eine komplexe Analyse erst plastisch werden. Ich fühlte mich an die Metapher des Leuchtturms erinnert, die anderenorts im Zusammenhang mit ähnlichen Phänomenen der Rezeption der Arbeiten von John Holloway und Heinz Dieterich geprägt wurde: Dass sie wie Leuchtfeuer ein Stück des Wegs markieren, den jeder einzelne zurückzulegen hat, wenn wir gemeinsam eine humanen Gesellschaft formen wollen, und wie Leuchtfeuer eine große orientierende Bedeutung besitzen auf dem Weg zu ihnen hin, diese aber verlieren, wenn wir an diesem Orientierungspunkt angekommen sind und beginnen, die nächste Marke anzupeilen.

Diesen Leuchtfeuereffekt hatte der Abend für die Mehrzahl der Anwesenden zweifellos.