WAK:2007-01-08

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Im Takt des Geldes. Zur Genese modernen Denkens
mit Eske Bockelmann (Chemnitz)
Veranstaltung des AK Kritische Theorie beim StuRa der Uni Leipzig.
8. Januar 2007, 19:00 Uhr, GWZ Beethovenstraße 15, Raum 2.1.0

Ankündigung

Eske Bockelmann wird, in Anlehnung an Ausführungen seines gleichnamigen Buches, einige zentrale Thesen zum Zusammenhang von Warenform und Denkform vorstellen. In der Tradition Alfred Sohn-Rethels fragt Bockelmann nach dem Ursprung apriorischer Wahrnehmungs- und Denkformen und versucht, den Konnex zwischen der Entstehung des Geldes und der synthetischen Wahrnehmungsleistung des Subjekts plausibel zu machen. Bockelmann beschäftigt sich zum einen mit den sinnlichen Formen der Erkenntnis. Das Wahrnehmen von Rhythmen, das Hören von unbetonten und betonten Zählzeiten ist Produkt neuzeitlicher Praxisformen. Die Abstraktionsleistung, die von Nöten ist, um Waren zu tauschen, d.h. bestimmte Ware und unbestimmtes Geld formal gleichzusetzen, konstituiert die Zweiwertigkeit akustischer Rezeptivität. Die Historisierung der sinnlichen Wahrnehmung wird dabei zum Ausgangspunkt für die Historisierung der abstrakten Grundlagen moderner Wissenschaft, die ebenso auf einem grundlegenden Dualismus von Sinnlichkeit und Vernunft, von abstrakt und konkret aufruht.

Zur Person: Geboren 1957 in Friedrichshafen am Bodensee. Schulzeit und Studienzeit in München, Studienfächer: klassische und deutsche Philosophie, Dissertation über den deutschen, lateinsprachigen Humanismus. Ab 1993 Arbeit an den Universitäten München, Würzburg und Marburg, vornehmlich im Bereich der deutschen Literatur. Zwischendurch für die Spielzeit 1991/92 Dramaturg am Nationaltheater Mannheim. Seit 1995 Dozent für Latein an der Technischen Universität Chemnitz.

Zuletzt veröffentlicht:

  • Im Takt des Geldes. Zur Genese des modernen Denkens. Lüneburg 2004.
  • Abschaffung des Geldes. In: Streifzüge 36/2006, Wien.

Bericht

Eske Bockelmann hat eine wichtige Entdeckung gemacht: Mit Beginn der Neuzeit, dem Übergang zum Kapitalismus, ändert sich (auch) das musikalische Empfinden der Menschen. Takt als spezielle Form von Rhythmus kommt in diesem Empfinden eine zentrale Bedeutung zu, die sich besonders dann entfaltet, wenn die Wahrnehmung unbewusst erfolgt. Dies führt so weit, dass andere Rhythmusformen als unangenehm oder zumindest fremdartig wahrgenommen werden. Eine weitere Besonderheit des Taktempfindes ist dessen Zweiwertigkeit, welche sich im Wechsel betonter und unbetonter Elemente selbst in "ungeraden" Takten wie dem 3/4-Takt wiederfindet. Hier wird die Brücke zur Ware-Geld-Beziehung geschlagen.

So weit, so gut und bemerkenswert. Die Interpretation dieses Phänomens als Ausdruck der Ware-Geld-Dichotomie, welche die kapitalistische Gesellschaft und damit unser Denken ganz grundlegend prägt - darauf läuft, in einiger Verkürzung, die Formel "Im Takt des Geldes" hinaus - trifft bei mir dagegen auf mehr Zweifel als Zustimmung. Ich halte eine solche direkte Kausalität, die mehr oder weniger unverhüllt im Raum stand, für abwegig. Mehr noch, ich frage mich, ob der Referent an dieser Stelle nicht der unbewussten Wirkung seiner eigenen wichtigen Entdeckung - der Vorprägung unseres Alltagsdenkens durch diese "Taktung" - selbst erlegen ist und selbst Taktung an eine Stelle projiziert, wo diese gar nicht vorhanden ist.

Die Frage stellt sich mir nicht von Ungefähr, denn komplexe Umbruchprozesse in der Sozialisierung menschlicher Gemeinschaften lassen sich auch - und für mich plausibler - als koevolutionäre Entwicklung eines ganzen Bedingungsgefüges beschreiben. In diesem Sinne wäre es also eher die Gleichzeitigkeit der Änderung des Rhythmusempfindens, der wachsenden Bedeutung von Marktbeziehungen und damit der zunehmend zentralen Rolle von Geld und - darauf wies Bockelmann in der Diskussion hin - des Übergangs von einem holistischen antiken Wissenschaftsverständnis hin zu einem neuzeitlich-analytischen, welches heute zumindest die Natur- und Technikwissenschaften dominiert (siehe dazu auch (Gräbe 2000)). Das Binnenverhältnis allein zwischen diesen drei Phänomenen ist sicher deutlich komplexer als dass eines von ihnen als Leitphänomen exponiert werden könnte. Sie zeigen nur, dass mit Beginn des Kapitalismus ein tiefgreifender Umbruch in der menschlichen Vergesellschaftung vor sich geht, der seinesgleichen vorher und wohl auch nachher sucht. Dass sich nicht bereits 200 Jahre später ein ähnlich tiefgreifender Umbruch vollziehen wird, ist beim Denken von Alternativen zur heutigen kapitalsitsichen Gesellschaft zu berücksichtigen. Vgl. auch (Gräbe 2005a) und (Gräbe 2005b). -- Hans-Gert Gräbe


Literatur: