WAK.2009-03-06

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Konferenz "Das Grundgesetz: Offen für eine neue soziale Idee."
Mit Luciano Canfora, Robert Misik u.a.
Veranstaltung des Gesprächskreises Wege aus den Kapitalismus und der AG Diskurs
6.+7. März 2009, 18:00 Uhr, Neues Rathaus

Ankündigung

Aus http://die-linke.de/politik/aktionen/das_grundgesetz_offen_fuer_eine_neue_soziale_idee

Zu den zentralen Anliegen linker und gewerkschaftlicher Politik zählte immer auch die verfassungsrechtliche Verankerung demokratischer und sozialer Rechte der Arbeiterschaft – welche Traditionslinien ziehen sich von der Weimarer Reichsverfassung über das Grundgesetz bis hin zu den Entwürfen für eine neue Verfassung nach 1989? Das Grundgesetz legt nicht fest, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse so sein müssen wie sie sind. Es ist offen für Veränderungen, Das Grundgesetz ist nicht Schäubles Eigentum. Die Verankerung sozialer Grundrechte ist eine mögliche Weiterentwicklung, eine neue soziale Idee, zu der auf der Konferenz diskutiert wird. Und was ist aus den Hoffnungen, Erwartungen und Ansprüche an eine neue Verfassung geworden, die an den Runden Tischen 1989 und 1990 diskutiert wurden? Hierüber werden Zeitzeugen berichten.

Wir freuen uns auf spannende Beiträge, interessante Diskussionen und hoffentlich großen Erkenntnisgewinn.


Berschluss des Parteivorstands vom 18.10.2008 zur Durchführung und inhaltlichen Ausrichtung der Konferenz

Programm

Freitag:

  • Am Beginn des 21. Jahrhunderts - Die Wurzeln der Linken oder was bleibt vom Sozialismus des 20. Jahrhunderts? Luciano Canfora, Professor für griechische und lateinische Philologie in Bari
  • Die Linke und die Freiheit - kritische Bestandsaufnahme. Robert Misik, Journalist und politischer Schriftsteller

Samstag:

  • Einleitung. Halina Wawzyniak, stellv. Parteivorsitzende
  • Das Grundgesetz und das Sozialstaatsgebot. Wolfgang Neskovic, MdB
  • Die Demokratiekonzeption des Grundgesetzes. Marcus Hawel, Univ. Hannover
  • Diskussion

Mittagspause

  • 1989 - Herausforderung, Niederlage oder hoffnungsloser Fall - welche Erfahrungen und Vorschläge sind heute noch aktuell. Dieter Segert, Autor des Buches "Das 41. Jahr - eine andere Geschichte der DDR"; Dieter Klein, RLS Berlin; Joachim Perels, Mitbegründer und Redakteur der Zeitschrift "Kritische Justiz"
  • Diskussion
  • Schlusswort André Hahn, Fraktionsvorsitzender der Linksfraktion im Sächsischen Landtag

Bericht

Zwei Tischvorlagen zum Thema wurden verteilt

Freitag abend:

Luciano Canfora war krankheitshalber nicht gekommen, hatte aber ein Referat geschickt, welches Helge Mewes verlas. Es ging aus von Otto Bauers Schrift "Krise der Demokratie" von 1936 und spannte den Bogen von Demokratie Ende des 19. Jahrhunderts als Kampf um das allgemeine und gleiche Wahlrecht bis zur heutigen Zeit, wo das Kapital die demokratischen Mechanismen weitgehend assimiliert hat und geschickt auszunutzen versteht.

Danach referierte Robert Misik 45 Minuten mit Schwerpunkt auf dem Thema Freiheit, Gleichheit, Demokratie. Die Linke habe den Freiheitsbegriff allzu kampflos dem Neoliberalismus überlassen, obwohl das Pathos des Freiheitsbegriffs in der Geschichte der Linken eine wichtige Rolle gespielt hat - kollektive Befreiung ist ohne individuelle Befreiung nicht zu haben. Freiheit muss da enden, wo die Freiheit anderer eingeschränkt wird. In der Linken wird dazu Freiheit der Sozialstaat gegenübergestellt, während die Konservativen in der Freiheit des Marktes - und damit dem Wettbewerbsstaat - die beste Voraussetzung sehen, die Potenzen der Bürger zu entfalten. Weiter diskutierte Misik das komplizierte Verhältnis zwischen Sozialstaat und kollektiven Sicherheitsnetzen einerseits und der Entfaltung von Individualität andererseits. Damit war der - weitgehend ordnungsrechtlich fundierte - Bogen zwischen Gleichheit und Freiheit aufgespannt.

Danach Diskussion, etwa 15 Beiträge, u.a. von Monika Runge, Hans-Gert Gräbe, Peter Porsch, Roland Wötzel, Klaus Kinner, in denen insbesondere die sehr enge Anlage des Referats von Robert Misik und seiner Antworten in der Diskussion thematisiert wurde. Porsch erinnerte an die Formel "Gleichheit, Freiheit, Geschwisterlichkeit" der französischen Revolution und fragte nach der Bedeutung der dritten Komponente in dieser Trias. Gräbe erinnerte an linke Debatten in einer der "Quellparteien" zum selben Thema, in der etwa Christoph Spehrs "Theorie der freien Kooperation" eine wichtige Rolle gespielt hatte, und mahnte an, zwischen wirtschafts- und bürgerrechtsliberalen Ansätzen zu unterscheiden, da letztere linkem Denken viel näher stehen als erstere. Bürgerrechtsliberale Ideen ("information wants to be free" - R. Stallman) spielen insbesondere in der amerikanischen kulturellen Linken eine wichtige Rolle in Themen wie "Freie Software", "Freie Lizenzen", "Freie Texte", "Freie Information" - wobei andere Facetten des Freiheitsbegriffs in den Vordergrund rücken als die von Misik vorgetragenen. Weitere Fragen ergeben sich daraus, dass in dieser Gesellschaft Freiheitsräume nicht primär ordnungsrechtlich, sondern vertragsrechtlich ausgestaltet werden, was in Misiks Vortrag überhaupt keine Rolle spielte.

Canforas Beitrag spielte in der Diskussion keine Rolle. Kinner wies darauf hin, dass bei Canfora - im Gegensatz zum Tenor der Beiträge dieses Abends - eher die Grenzen der Demokratie ausgelotet werden.

Samstag:

Zentral in Wolfgang Neskovics sehr instruktivem Vortrag war das Plädoyer für eine Überwindung des Schisma des Humanismus in eine libertäre und eine sozialistische Traditionslinie, indem das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit besser austariert wird. Bekanntlich verlief zwischen den Utopien der "Freiheit" und der "Gleichheit" nach 1961 über viele Jahre der Stacheldraht.

Neskovic startete von Ernst Bloch und dessen im Exil geschriebenen Hauptwerk "Prinzip Hoffnung", das als eine zentrale Frage erörtert, wie zu erreichen sei, dass "die Freien gleich und die Gleichen frei" werden. Das Grundgesetz bietet mit seinen vier Pfeilern Rechtsstaatsgebot, Demokratiegebot, Föderalismusgebot und Sozialstaatsgebot hierfür einen wichtigen Rahmen, der im Kampf der gesellschaftlichen Kräfte stets von Neuem ausgefüllt werden muss.

Während die ersten drei Pfeiler in der Rechtsliteratur gut ausgearbeitet sind, bleibt die Rechtstheorie beim Sozialstaatsgebot vage, weil dessen konkrete Ausgestaltung immer Gegenstand gesellschaftlicher Verteilungskämpfe ist. Neskovic ging in dem Zusammenhang mehrfach auf den Begründungstext des KPD-Verbotsurteils 1956 ein, in dem genau erläutert wird, wie das Sozialstaatsprinzip auszugestalten ist, um die unvermeidlichen Spannungen zwischen Gleichheit und Freiheit zu einem Optimum zu führen.

Kann Hoffnung enttäuscht werden? Ja. Muss man deshalb mäßiger sein? Nein.

Das GG hat sich bewährt bei der Sicherung der liberalen Utopie, bedarf aber deutlicher Ergänzungen zur Ausgestaltung der sozialen Utopie. Daran muss die Linke arbeiten. Soziale Rechte sollen einklagbar gegen den Staat sein, wobei - so in der Diskussion - der Staat hier stellvertretend für das Politische steht, in dessen Ausprägung auch die Handlungsspielräume föderaler und kommunaler Körperschaften zu bestimmen und zu sichern sind.

Marcus Hawel ging von den spezifischen Nachkriegs-Bedingungen der Entstehung des Grundgesetzes aus, im dem zwei ungeschriebene Präambeln ihre Umsetzung gefunden haben: "Nie wieder Krieg" und "Nie wieder Auschwitz". Die Demokratiekonzeption des GG ergibt sich primär aus § 20 (1)-(3). Die weitgehende Absage an Formen direkter Demokratie ist der Erfahrung der Weimarer Zeit geschuldet. Eine Aneignung des GG durch breitere Bevölkerungsschichten erfolgte in den 60er Jahren im Kampf gegen die Notstandsgesetzgebung, wo das GG erstmals ernsthaft verteidigt werden musste.

Die Linke entdeckte die Verfassung erst in den 80er Jahren - vorher wurde sie einzig als Machtmittel der herrschenden Klasse qualifiziert. In der Verfassung der BRD fehlen radikaldemokratische Elemente fast vollständig; sie sind auf kommunaler und föderaler Ebene teilweise vorhanden, auf Bundesebene besteht eine rein repräsentative Demokratie. Das ist in vielen europäischen Staaten anders und nur aus der speziellen deutschen Geschichte heraus zu erklären. Die Verfassung ist durch das Staatsverständnis von Carl Schmidt geprägt und damit implizit von Hegels Misstrauen gegen die Vernunft der "Volksmassen". Dieses Verständnis repräsentativer Demokratie als Meritokratie ist heute in der Krise.

Demokratie ist überhaupt ein schillernder Begriff und stark geprägt von stets neuem Ringen um Balancen zwischen verschiedenen Polen. Demokratie ist damit offen, dynamisch und situationsbezogen. Das GG bleibt an vielen Stellen abstrakt und wertneutral, um den Rahmen für dieses Ringen um Balancen abzugeben und dieses Ringen zugleich auf die politische Ebene zu heben.

Ein paternalistischer Sozialstaatsgedanke, der auf Staatsbürger einerseits und Wirtschaftsuntertanen andereseits setzt, passt nicht zu einem demokratischen und sozialen Gemeinwesen.

Aus der Diskussion:

  • Plädoyer für ein "Recht auf Einkommen durch Arbeit" in Verfassungsrang (R. Köhne)
  • Das ist in der Bayerischen Verfassung (geschrieben 1946) weitgehend verankert (Neskovic)
  • Soziale Rechte müssen materiell untersetzt sein. Im undifferenzierten Ruf nach dem Staat wird die besondere Rolle kommunaler Elemente nicht deutlich. Plädoyer für ein "Recht auf Einkommen" auch für Kommunen in Verfassungsrang (Gräbe)
  • Sozialstaatsgebot umfasst das Gebot ausreichender Finanzierung. "Wir können uns den Sozialstaat nicht leisten" ist ein verfassungsfeindlicher Standpunkt (Neskovic)
  • Eine Verfassung muss man verteidigen wie eine Stadtmauer. Permanent (Hawel nach Heraklit)
  • Spannungsgeladenes Verhältnis zwischen Verfassungsverteidigung und europäischem Integrationsprozess

Nach dem Mittag ging es um die Einbindung der Erfahrungen aus der Verfassungsarbeit vor, in und nach der Wende. Joachim Perels ließ sich krankheitshalber entschuldigen, so dass es mit Dieter Segert und Dieter Klein seitens des Podiums eine reine "Ost"-Veranstaltung wurde. Meine Aufzeichnungen sind nicht ergiebig genug, um diesen Teil der Veranstaltung nachzuzeichnen.

Hans-Gert Gräbe, 7.3.2009