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Solidarische Ökonomie - Alternativen zum Ausverkauf der Stadt
mit Michael Lewis (Executive Director des CCE - Centre for Community Enterprise, Vancouver British Columbia, Canada)
Veranstaltung im Rahmen der Infotour Solidarökonomie
20. November 2006, 18:00 Uhr, Verdi-Saal, Volkshaus Karl-Liebknecht-Straße


Ankündigung

Michael Lewis ist langjähriger Mitarbeiter des CCE sowie des Canadian Community Economic Development Network, einer nationalen Dachorganisation zur Förderung von Gemeinwesenentwicklung und Gemeinwesenökonomie, deren Aktivitäten auf die Unterstützung bürgerschaftlichen kommunalen Engagements und die Verbreitung dieser Erfahrungen gerichtet sind. Das CCE stellt den eigenen Ansatz wie folgt dar:

Viele, viele Städte und Regionen in ganz Kanada sind hart von ökonomischen, sozialen und ökologischen Veränderungen getroffen. Die Probleme, mit denen sie konfrontiert sind, sind komplexer Art. Privatunternehmen und Regierungen allein können eine gedeihliche Entwicklung dieser Gemeinwesen nicht mehr bewirken, so wie auch Persönlichkeiten oder Organisationen dies im Alleingang nicht können.
Um diese Gemeinwesen wieder zum Leben zu erwecken, bedarf es einer langfristig angelegten Zusammenarbeit von Persönlichkeiten, Bürgern, Gruppen und Organisationen auf breiter Front. Sie müssen über solide Informationen über lokale Bedingungen, Möglichkeiten und Erwartungen verfügen. Sie müssen eine gemeinsame Vision über die Zukunft des eigenen Gemeinwesens teilen und wie diese verwirklicht werden kann.


Unterstützer der Veranstaltung


Bericht

Hans-Gert Gräbe, 17.12.2006

Unter der Überschrift "Unsere Bürger und Gemeinden ermächtigen" (Empowering our Citizens and our Communities) sprach Mike Lewis über 25-jährige Erfahrungen und konzeptionelle Überlegungen, wie ein Gemeinwesen durch gemeinsame Anstrengungen von Bürgern, regionaler politischer Akteure und Strukturen revitalisiert werden kann, obwohl es im Ergebnis globaler ökonomischer Restrukturierungsprozesse von den "Mächtigen dieser Welt" bereits aufgegeben worden war.

Dem Vortrag stellte der Referent den Leitspruch "Unduldsamkeit gegenüber Ungerechtigkeit, Rationalität in der Aktion" (Indignation at Injustice, Rationality in Action) voran, mit dem er deutlich machte, dass es wichtig ist, unhaltbare Zustände anzuprangern, dies aber für Veränderungen zum Besseren nicht ausreicht. Dafür sind konstruktive Aktionen wichtig, die nicht nur Wunschdenken entspringen, sondern auch rational-pragmatischer Analyse.

Am Anfang gab Mike Lewis eine Übersicht über wichtige und grundlegende ökonomische und soziale Funktionen eines Gemeinwesens:

  • Ökonomische Funktionen
  • Planung, Analyse, Beratung:
Die Fähigkeit, Kompetenz und Wissen zu organisieren und dieses in Entscheidungsprozessen sachgerecht und im Interesse der Belange des Gemeinwesens zur Geltung zu bringen.
  • Zugängliche Kredite:
Ohne zugängliche Kredite sind Bürger und Unternehmer nicht in der Lage, Produktivvermögen zu bilden. Fehlende Kreditmöglichkeiten führen automatisch zur Marginalisierung der Region.
  • Aufbau von lokalen Kapitalstöcken und lokalem Eigentum:
Für Privatpersonen ist die Bildung von Eigentum an Produktivvermögen der Schlüssel, um aus Armut auszubrechen. Bei der Festigung der ökonomischen Basis eines Gemeinwesens spielen Unternehmen eine zentrale Rolle, die profitabel wirtschaften und im Territorium reinvestieren. Hohe lokale Eigentümerquoten führen zu hohen lokalen Reinvestitionsraten.
  • Entwicklung des Fähigkeiten der Bürger:
Es ist wichtig zu erreichen, dass - von den marginalisierten Bürgern bis hin zu den zentralen Akteuren und Leitfiguren des Gemeinwesens - alle willens, fähig und bereit sind, sich in die Verbesserung der ökonomischen Leistungsfähigkeit des Gemeinswesens einzubringen.
  • Infrastruktur:
Der Ausbau einer leistungsfähigen Infrastruktur (z.B. Zugang zu sauberem Wasser; Vorratswirtschaft; Transport; Internet-Zugang) ist eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklungsfähigkeit eines Territoriums.
  • Soziale Funktionen
  • Bildung und Erziehung:
Dabei spielen Zugang und Qualität von Bildung sowohl für Kinder als auch Erwachsene eine wichtige Rolle.
  • Sicherheit und Geborgenheit:
Dies ist eine wichtige Voraussetzung sowohl für Bürger als auch Unternehmen und steht in direkter Verbindung zum Grad der eigenen Aktivität für bürgerschaftliche Belange.
  • Soziale Unterstützung:
Dabei geht es vor allem um Hilfe zur Selbsthilfe; Unterstützung der Bürger, ihre grundlegenden Bedürfnisse selbst zu befriedigen; Teilnahme an Entscheidungsprozessen und am Gemeindeleben. Damit wird die soziale Verbundenheit (interconnectedness) innerhalb eines Gemeinwesens gestärkt, was seinerseits Auswirkung darauf hat, wie gut sich lokale Akteure und Ressourcen mobilisieren lassen.
  • Bezahlbarer Wohnraum:
Zugang zu erschwinglichem Wohnraum hat einen großen Einfluss auf die Lebensqualität und damit auf die Möglichkeit der Bürger, ihre sozialen und ökonomischen Bedürfnisse zu befriedigen.
  • Kultur und Erholung:
Physisches und emotionales Engagement verstärken die physische und emotionale Gesundheit der Bürger eines Territoriums.

Dann erläuterte Mike Lewis am Beispiel der Gemeinde Point St. Charles im Großraum Montreal, Quebec, wie das Zusammenspiel dieser Faktoren in den letzten 20 Jahren zur Revitalisierung der Kommune geführt hat. Point St. Charles hatte 1984 nur noch 13 000 Einwohner (1967: 30 000), wovon 43% unterhalb der Armutsgrenze lebten, 17% arbeitslos waren und 25% von Sozialhilfe lebten. Dies war das Ergebnis ökonomischer Restrukturierungsprozesse im Zusammenhang mit dem Ausbau des St.-Lorenz-Stroms für Hochseeschiffe, wodurch die Region um Montreal ihre frühere Bedeutung als Seehafengebiet verlor und allgemeine Abwanderungsprozesse (von Unternehmen, von Kapital, von Leuten, von Dienstleistungen) einsetzte.

In den 60er und 70er Jahren hatten lokale Organisationen bereits begonnen, durch die Bildung kommunalen Eigentums die Sicherung grundlegender Bedürfnisse zu stabilisieren. Dabei spielten die nordamerikanischen gemeinwesen-orientierten kommunitaristischen Traditionen sicher eine wichtige Rolle. Es wurde eine Verbraucher-Kooperative gegründet, welche die Versorgungsprobleme durch den Weggang großer Handelsketten auffing sowie ein Wohnungsbauprogramm initiiert, in dessen Ergebnis 23 Wohnungsgenossenschaften entstanden, die 300 Wohneinheiten zu erschwinglichen Preisen bauten. Schließlich wurden kommunale soziale und kulturelle Dienste organisiert. Trotzdem ging der Niedergang der Region weiter.

In den 70er und frühen 80er Jahren fielen die "Heuschrecken" samt staatlicher Entwickler ein und wollten die Gegend durch den Bau hochwertiger Eigentumswohnanlagen "revitalisieren". Dies wäre unweigerlich mit der Vertreibung der noch verbliebenen Bürger verbunden gewesen, wogegen sich in der Kommune entschiedener Widerstand erhob und organisierte und diese Pläne schließlich zu Fall brachte. Organisierter Widerstand allein schafft aber noch keine Alternativen.

1982 stellte der YMCA zwei hauptamtliche Personen für zwei Jahre ein, die eine integrierte Kommunalentwicklungsplanung vorantrieben, indem sie (1) die Erfahrungen anderer Regionen auswerteten (US, Europa), (2) diese Erfahrungen den kommunal wirkenden Organisationen und Projekten vermittelten und diese zu eigenen Projekten anregten sowie (3) diese Erfahrungen selbst im regionalen Kontext anzuwenden begannen. Die sich so herausbildende Koalition lokaler Akteure erreichte durch Druck auf die Provinzregierung, dass diese Geld für eine Studie zur Verfügung stellte, wie der Niedergang der Kommune aufzuhalten ist.

Die Provinzregierung finanzierte die auf dieser Basis gegründete lokale Entwicklungsagentur PEP (Programme Economique Point St. Charles) für ein Jahr und stellte einen Anschubkredit über 100 000 $ für Unternehmensgründungen zur Verfügung. Das PEP organisierte Schulungen zur Unternehmensgründung für 25 Personen. Die Gründungen schlugen in den meisten Fällen fehl, brachten aber 50 Leute in Arbeit, wenn auch in der gleichen Zeit deutlich mehr Leute an anderen Stellen entlassen wurden.

Die Ausrichtung auf Unternehmensgründungen führte zu großen Kontroversen, in deren Ergebnis drei Gründerorganisationen das PEP verließen. Zur gleichen Zeit traten 140 Einzelpersonen und 13 kooperative Mitglieder dem PEP bei. Das PEP hatte damit "die Hand am Puls der Gemeinde".

Das PEP änderte in den nächsten Jahren seinen Fokus und bewegte sich weg von neuen Unternehmensgründungen hin zur Stabilisierung bereits bestehender Unternehmen. Dabei konnten die guten regionalen Kontakte zu Gewerkschaften und anderen lokalen Akteuren ihre Wirkung als "Frühwarnsystem" entfalten. Zusammen mit zwei weiteren Entwicklungsorganiationen (CDEC's) wurde ein Kreditfonds eingerichtet zur Unternehmensfinanzierung in armen Regionen. Auf der Basis gelang es, 188 Arbeitsplätze zu erhalten und 76 neue zu schaffen.

Zusammen mit Regionalentwicklungsprojekten in vier anderen Regionen der Umgebung von Montreal wurde in den folgenden Jahren RESO - ein regionales Dach der Entwicklungsorganisationen - gegründet, welches die Aktivitäten koordinierte und zu einer multi-funktionalen Strategie ausbaute:

  • Weitere Konsolidierung der Aktivitäten zur Stabilisierung bereits bestehender Unternehmen;
  • Ausbau des Frühwarnsystems mit den Gewerkschaften zu geplanten Betriebsschließungen - als Grund stellte sich oft heraus, dass die Region nicht genügend qualifiziertes Personal für neue Technologien bot;
  • Gezielte Weiterbildung von 1500 Leuten pro Jahr, um diese regionalen Bildungsdefizite zu beseitigen;
  • Die wachsende Mitgliedschaft von RESO wurde eingesetzt, um für die Bedürfnisse der Regionen zu streiten und Entscheidungen zugunsten der grundlegenden Bedürfnisse der fünf Regionen zu beeinflussen;
  • Es wurde ein regionaler Kapitalstock von 7 Mill. $ als Investitionsfonds gebildet - hierbei waren die traditionell großen finanziellen Aktivitäten der Gewerkschaften und die starke Stellung kooperativ organisierter Banken entscheidend -, aus dem kommunale Eigentumsanteile an Unternehmen finanziert wurden.
  • RESO spielte eine zentrale Rolle in der Vermittlung von regionalen Aktivitäten und Partnern sowie bei der Verankerung und Stärkung kommunalen Vermögens.

Das RESO Board setzt sich aus gewählten Vertretern der verschiedenen Gruppen zusammen - vier Vertreter kommunaler Organisationen, zwei Gewerkschafter, zwei Kleinunternehmer, ein Großunternehmer, ein Finanzvertreter, ein Hauptamtlicher (staff) und vertritt 1500 Einzelpersonen und 300 Organisationen. Die Aktivitäten in den Kernbereichen (1) Planung, Forschung, Beratung, (2) Arbeit mit den Menschen, (3) Ausbildung von Vermögen, Kapital und lokalem Eigentum strahlten aus auf andere für die Kommunalentwicklung wichtige Bereiche wie Infrastruktur, Kreditverfügbarkeit, Wohnungswirtschaft, soziale Unterstützung, Kultur, Allgemeinbildung. Die Ergebnisse sind Resultat des Zusammenwirkens dieser Kernfaktoren, von Basisdemokratie und Einfluss im Territorium. Mitte der 90er Jahre stellt das statistische Amt Kanadas erstmals nach 30 Jahren fest, dass es mit der Region im SW Montreals nicht mehr abwärts geht.

Am Ende seines Vortrags fasste Mike Lewis die Erfahrungen in folgenden Kernsätzen zusammen:

  • Eine verarmte Kommune, die sich nicht organisiert, wird nicht widerstehen.
  • Ohne einen strategischen Plan und Zugang sind dauerhafte ökonomische und soziale Ergebnisse nicht zu erreichen.
  • Es ist ein multi-funktionaler Zugang durch eine Regionalentwicklungsorganisation oder im Rahmen einer strategischen Zusammenarbeit solcher Organisationen in einer Region erforderlich, wenn signifikante Ergebnisse von Dauer erzielt werden sollen.
  • Kontinuierliche Lernprozesse sind zentral für die Herausbildung demokratischer Organisationsformen, über welche erst die sozialen und ökonomischen Ressourcen nachhaltig zu mobilisieren sind, die benötigt werden, um positive Entwicklungseffekte zu erzielen und zu verstetigen.
  • Staatliche Unterstützung ist nicht unbedingt eine Voraussetzung, um solche Entwicklungen und Innovationen anzustoßen, ist aber nach wie vor kritisch, wenigstens in Kanada, wenn es darum geht, solche Entwicklungen auf ein Niveau zu heben, auf welchem sie breite Wirkung entfalten.

Durch zentrale Akteure vermittelte Regionalentwicklungsansätze wie der hier beschriebene schaffen schließlich auch die Räume, in denen sich dezentrale Formen sozialer Ökonomie (social economy) entfalten können und umgekehrt stabilisieren solche dezentralen Formen sozialer Ökonomie diese Regionalentwicklungsstrukturen.

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