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'''Rainer Thiel''' erläuterte dann Aspekte der Geschichte der Altschuller-Rezeption in den DDR-Erfinderschulen. Auch dabei blieb (wie in seinen Aufsätzen und Büchern) ein Moment der "Bedingtheit der Möglichkeiten" unterbelichtet bzw. stillschweigend vorausgesetzt – alle seine Heroen waren ''Verdiente Erfinder des Volkes''. Was hat es damit auf sich? Welche Reputationsstrukturen ''jenseits'' von Partei und Staat hatten sich dort aufgebaut und wie kam es überhaupt dazu? Der Leipziger [https://www.faz.net/aktuell/beruf-chance/michael-herrlich-vorsitzender-der-deutschen-erfinder-akadamie-wir-muessen-erfinderisches-problemloesen-trainieren-11508779.html Michael Herrlich], einer von Thiels Heroen, Organisator von Treffen auf der [https://de.wikipedia.org/wiki/Jagdschloss_Hohe_Sonne "Hohen Sonne"] bei Eisenach, aus dem Milieu der "Kleingewerbetreibenden" ([https://www.lederherrlich.de/ "Leder Herrlich"]), ''kein'' Genosse, erläuterte mir im Gespräch die bedeutung von WOIR für diesen Hort ausgeprägten kreativen und damit auch kritischen Geistes: Er sei als "Verdienter Erfinder" Mitte der 1960er Jahre Mitglied einer Regierungsdelegation der DDR gewesen, die sich WOIR in Moskau genauer angeschaut habe.  Thiel trifft in den 1970er Jahren auf diesen Nährboden und entwickelt bereits in jener Zeit eine spannende interdisziplinäre Symbiose zwischen Humanities und Technikwissenschaft, die heute unter dem Begriff "Digital Humanities" eine neue Blüte erlebt. '' Ohne'' diesen Nährboden wäre der Eifer allerdings verpufft ...
'''Rainer Thiel''' erläuterte dann Aspekte der Geschichte der Altschuller-Rezeption in den DDR-Erfinderschulen. Auch dabei blieb (wie in seinen Aufsätzen und Büchern) ein Moment der "Bedingtheit der Möglichkeiten" unterbelichtet bzw. stillschweigend vorausgesetzt – alle seine Heroen waren ''Verdiente Erfinder des Volkes''. Was hat es damit auf sich? Welche Reputationsstrukturen ''jenseits'' von Partei und Staat hatten sich dort aufgebaut und wie kam es überhaupt dazu? Der Leipziger [https://www.faz.net/aktuell/beruf-chance/michael-herrlich-vorsitzender-der-deutschen-erfinder-akadamie-wir-muessen-erfinderisches-problemloesen-trainieren-11508779.html Michael Herrlich], einer von Thiels Heroen, Organisator von Treffen auf der [https://de.wikipedia.org/wiki/Jagdschloss_Hohe_Sonne "Hohen Sonne"] bei Eisenach, aus dem Milieu der "Kleingewerbetreibenden" ([https://www.lederherrlich.de/ "Leder Herrlich"]), ''kein'' Genosse, erläuterte mir im Gespräch die bedeutung von WOIR für diesen Hort ausgeprägten kreativen und damit auch kritischen Geistes: Er sei als "Verdienter Erfinder" Mitte der 1960er Jahre Mitglied einer Regierungsdelegation der DDR gewesen, die sich WOIR in Moskau genauer angeschaut habe.  Thiel trifft in den 1970er Jahren auf diesen Nährboden und entwickelt bereits in jener Zeit eine spannende interdisziplinäre Symbiose zwischen Humanities und Technikwissenschaft, die heute unter dem Begriff "Digital Humanities" eine neue Blüte erlebt. '' Ohne'' diesen Nährboden wäre der Eifer allerdings verpufft ...


Am Samstag entwickelte '''Justus Schollmeyer''' ein Konzept von Dialektik als Sprechbarmachen von Kontexten, auf die Altschuller (und wohl auch Marx) allenfalls implizit Bezug genommen haben. Kurt Bayertz ("Interpretieren, um zu verändern. Marx und seine Philosophie") hat dies für den philosophischen Hintergrund von Marx genauer auseinandergenommen, und auch Schollmeyer folgt dieser Lesart, dass für Marx Dialektik nur eine brauchbare ''Darstellungsform'' gewesen sei und weniger eine auch explizit sprechbare ''Denkform''. Marx bewege sich in Hegelschen Begrifflichkeiten, ohne eigenständige Beiträge zu deren (philosophischer) Sprechbarkeit zu machen. Die "Deutsche Ideologie" (MEW 3) blieb Fragment und "der nagenden Kritik der Mäuse überlassen", als deren Selbstzweck (mit Engels) erreicht war – "Selbstverständigung". Die im Feuerbachkapitel festgeschriebenen Ansätze entreißen den Materialismus der Religion, allerdings ist der volumenmäßig größte Teil der "Deutschen Ideologie" eine Auseinandersetzung mit Stirner und bleibt unbefriedigend, denn es ist viel Polemik und heiße Luft, aber wenig Substanz zu finden. Steht aber Stirners Tirade "Was soll nicht alles meine Sache sein ..." nicht gerade ''für'' den Aufschrei des kreativ-kritischen Geistes gegen die kleinlichen Zumutungen, mit denen jener konfrontiert wird? Und wie steht es mit [https://de.wikipedia.org/wiki/John_Holloway Holloways Erkenntnis "Am Anfang war der Schrei"]? Mehr dazu in [https://hg-graebe.de/EigeneTexte/Z-115.pdf (Gräbe 2018)]
Am Samstag entwickelte '''Justus Schollmeyer''' ein Konzept von Dialektik als Sprechbarmachen von Kontexten, auf die Altschuller (und wohl auch Marx) allenfalls implizit Bezug genommen haben. Kurt Bayertz ("Interpretieren, um zu verändern. Marx und seine Philosophie") hat dies für den philosophischen Hintergrund von Marx genauer auseinandergenommen, und auch Schollmeyer folgt dieser Lesart, dass für Marx Dialektik nur eine brauchbare ''Darstellungsform'' gewesen sei und weniger eine auch explizit sprechbare ''Denkform''. Marx bewege sich in Hegelschen Begrifflichkeiten, ohne eigenständige Beiträge zu deren (philosophischer) Sprechbarkeit zu machen. Die "Deutsche Ideologie" (MEW 3) blieb Fragment und "der nagenden Kritik der Mäuse überlassen", als deren Selbstzweck (mit Engels) erreicht war – "Selbstverständigung". Die im Feuerbachkapitel festgeschriebenen Ansätze entreißen den Materialismus der Religion, allerdings ist der volumenmäßig größte Teil der "Deutschen Ideologie" eine Auseinandersetzung mit Stirner und bleibt unbefriedigend, denn es ist viel Polemik und heiße Luft, aber wenig Substanz zu finden. Steht aber Stirners Tirade "Was soll nicht alles meine Sache sein ..." nicht gerade ''für'' den Aufschrei des kreativ-kritischen Geistes gegen die kleinlichen Zumutungen, mit denen jener konfrontiert wird? Und wie steht es mit [https://de.wikipedia.org/wiki/John_Holloway Holloways Erkenntnis "Am Anfang war der Schrei"]? Mehr dazu in [https://hg-graebe.de/EigeneTexte/Z-115.pdf (Gräbe 2018)].


Hans-Gert Gräbe, 03.02.2019
Justus Schollmeyer ging davon aus, dass sich ein spezielles Verständnis von ''Technikgeschichte'', das sich Anfang der 1930er Jahre in der Sowjetunion herausgebildet hat, nachdem soziale Widersprüche politisch nicht mehr sprechbar waren, in Altschullers Theorieansätzen manifestiert, die stark auf technische Widersprüche und Patentierbarkeit ausgerichtet sind und weniger auf Fragen der Einbettung solcher technischer in umfassendere sozio-kulturelle Widersprüche. Ein solcher Fokus passt gut in einen bürgerlichen Kontext und mag den Erfolg dieser methodischen Ansätze im Heute begründen. Allerdings ist eine solche Engführung des Technikbegriffs nicht nur aus einem spezifischen Verständnis von Technikgeschichte zu erklären, sondern ''auch'' Teil eines Komplexitätsreduktionsprozesses, in welchem Möglichkeitsräume nach dem Aspekt sozio-praktischer Veränderbarkeit vorstrukturiert und situative Sprechweisen dieser Strukturierung angepasst werden. Das ist deutlich in ingenieur-technischen Kontexten präsent. Der VDI geht in seiner [https://de.wikipedia.org/wiki/Technik Technikdefinition] (VDI-Richtlinie 3780) über ein artefakt-zentriertes Denken hinaus und thematisiert auch "die menschlichen Handlungen" der Herstellung sowie des Einsatzes von Techniksystemen. In diesem Sinne geht (heutige) kapitalistische Logik bereits über (damalige) sozialistische hinaus. Allerdings bleibt generell unklar, in welchem Umfang eine "Systemimmanenz" bei derartigen Fragen überhaupt eine Rolle spielt bzw. in welchem Sinne hier der Systembegriff präsent ist. Die alte [http://www.mlwerke.de/lu/luf_1.htm Frage "Barbarei oder Sozialismus"] (Rosa Luxemburg 1916) ist nach Momenten der Barbarei ''im'' realen Sozialismus überholt und zu fragen, ob die Vision des Kommunistischen Manifests ("Die Kommunisten ...erklären offen, daß ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung. Mögen die herrschenden Klassen vor einer kommunistischen Revolution zittern. Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen.") nicht durch die 10. Feuerbachthese abzulösen ist, eine "menschliche Gesellschaft zu gewinnen". Das kann aber nur geschehen "mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist" (MEW 1) und sich damit gegen ''jede'' Form von Barbarei zu stellen, egal, in wessen Namen sie ausgeführt wird und mit welchen hehren Zielen. Noch einmal Stirner, ''obwohl'' Stirner den bürgerlichen Kontext nicht transzendiert.
 
Hans-Gert Gräbe, 04.02.2019

Version vom 4. Februar 2019, 15:55 Uhr

HGG.Kommentare

TRIZ und Dialektik

Der Hamburger Gesprächskreis Gesprächskreis Dialektik & Materialismus lud am 1. und 2. Februar 2019 zu einer Diskussion des Themas "TRIZ und Dialektik" ein, das später verkürzt zu "TRIZ & More" wurde, nachdem die Vielzahl anschlussfähiger Themen schier explodierte. Dabei war mit dem 88-jährigen Rainer Thiel auch ein Urgestein der DDR-Erfinderschulszene. Der Anspruch des "TRIZ-Seminars" im Selbstverständnis der Veranstalter liest sich wie folgt:

TRIZ & More meint, mit der Widerspruchsmatrix den historischen, polit-ökonomischen Bezug und Charakter, den Vergleich der Gesellschaftssysteme, die Theorie und Begriffe klären.

Programm

Freitag abend:

  • Vorbemerkungen
    • Der Gesprächskreis und die Kritik der bestehenden Ausgangsbedingungen
    • Praxis der Dialektik & des Materialismus, die politischen Rahmenbedingungen
    • Gesellschaftliche Rahmenbedingung für TRIZ Anwendung in der UdSSR
    • TRIZ als dialektisches Verfahren zum Lösen von Problemen und Gestalten von Innovationen
  • Gesellschaftliche Rahmenbedingung für TRIZ Anwendung in der UdSSR. Proletarische Staatsgewalt. Rahmenbedingung für gesellschaftliche organisierte Produktion, Dr. Gert Meyer, Wirtschaftshistoriker aus Marburg
  • TRIZ und Sozialismus in der DDR. Die Erfinderschulen der DDR. Dr. Rainer Thiel, Bugk bei Storkow

Samstag:

  • TRIZ als schöpferische Erfindungsmethode. Zum philosophiehistorischen Hintergrund sowie der Beziehung zwischen Hegel und Altschuller. Justus Schollmeyer, Berlin
  • Die Methoden der klassischen TRIZ und die Erfahrung zahlreicher Problemlösungen. Die 8 Gesetze des schöpferischen Erfindens, nach Altschuller. Prof. Kai Hiltmann, Coburg
  • Notwendigkeit gesamtgesellschaftlicher Innovation. Thesen einer möglichen Transformation. Dr. Axel Popp, Potsdam

Anmerkungen

Den Einstieg machte Gert Meyer (Marburg) mit einem Vortrag zu den wesentlichen Etappen einer Geschichte der SU, die ich hier nicht rekapituliere. Mit Bezug auf die TRIZ-Thematik fragte Justus Schollmeyer nach, ob in dieser Historiografie ein Wechsel im technikhistorischen Verständnis zu Beginn der 1930er Jahre hin zu einem engeren Technikbegriff zu verzeichnen gewesen sei, wie dies Yevgeny Karasik ("Why was TRIZ born in Baku") und vor allem der Wissenschaftshistoriker Slava Gerovitch im postsowjetischen Diskurs behaupten. Justus führte dies später im eigenen Vortrag weiter aus. Begründet wird diese These mit der Tatsache, dass der freie Diskurs über soziale Widersprüche in den 1930er Jahren durch die Parteistrukturen komplett blockiert wurde und entsprechende öffentliche Äußerungen für die Autoren lebensgefährlich wurden. Entsprechende Schließungstendenzen gab es im Westen schon länger, allerdings aus anderen Gründen. Siehe hierzu etwa G. Lukácz: Die Zerstörung der Vernunft.

Unterbelichtet blieben in Meyer Vortrag einerseits die internationalen Verflechtungen sowjetischer Wissenschaft, insbesondere auch theoretischer Ökonomie, bis wenigstens in die späten 1920er Jahre, sowie andererseits die Neuererbewegung.

Nichts gesagt wurde über die Auswirkungen des Terrors der 1930er Jahre auf die technische Intelligenz, die Ende der 1940er Jahre in der Lage war, ein dem Manhattan-Programm vergleichbares Projekt umzusetzen, in dem die Erkenntnisse des "Atomspions" Klaus Fuchs und die im Nachkriegsdeutschland eingesammelten Spezialisten eine wichtige, aber keineswegs entscheidende Rolle gespielt haben. Immerhin, so Hiltmann in seiner Historiografie Altschullers, habe dessen Lagerhaft 1950-54 zu einer deutlichen Formierung der eigenen Ansätze beigetragen, weil er dort "die gesamte Intelligenzia versammelt angetroffen hätte" und die eigenen Ansätze dort besprechen und ordnen habe können. Die widersprüchliche Situation – etwa um Lyssenko und dessen Gegenspieler in der Biologie – ist nach 1990 literarisch ausführlich aufgearbeitet worden (Dudinzew: Weiße Gewänder). Zu späteren engen internationalen wissenschaftlichen Verflechtungen zwischen Ost und West siehe etwa auch den Wissenschaftshistoriker Hubert Laitko, etwa seinen Text im Sammelband

Anforderungen an eine nachhaltige Wissenschaftsentwicklung. Rohrbacher Manuskripte, Heft 15, Rosa-Luxemburg-Stiftung Leipzig, 2009.

In Meyers Vortrag ausgeklammert, für den TRIZ-Kontext aber wichtig, blieb auch die Neuererbewegung. Hier wäre insbesondere auf die 1932 gegründete, 1938 aufgelöste und 1958 wiedergegründete Allunionsgesellschaft der Erfinder und Rationalisatoren (WOIR) einzugehen gewesen, eine auch heute noch einflussreiche Massenorganisation, die im deutschen Einzugsbereich von Google allerdings keine Rolle spielt. Siehe dazu aber entsprechende russischsprachige Links:

Rainer Thiel erläuterte dann Aspekte der Geschichte der Altschuller-Rezeption in den DDR-Erfinderschulen. Auch dabei blieb (wie in seinen Aufsätzen und Büchern) ein Moment der "Bedingtheit der Möglichkeiten" unterbelichtet bzw. stillschweigend vorausgesetzt – alle seine Heroen waren Verdiente Erfinder des Volkes. Was hat es damit auf sich? Welche Reputationsstrukturen jenseits von Partei und Staat hatten sich dort aufgebaut und wie kam es überhaupt dazu? Der Leipziger Michael Herrlich, einer von Thiels Heroen, Organisator von Treffen auf der "Hohen Sonne" bei Eisenach, aus dem Milieu der "Kleingewerbetreibenden" ("Leder Herrlich"), kein Genosse, erläuterte mir im Gespräch die bedeutung von WOIR für diesen Hort ausgeprägten kreativen und damit auch kritischen Geistes: Er sei als "Verdienter Erfinder" Mitte der 1960er Jahre Mitglied einer Regierungsdelegation der DDR gewesen, die sich WOIR in Moskau genauer angeschaut habe. Thiel trifft in den 1970er Jahren auf diesen Nährboden und entwickelt bereits in jener Zeit eine spannende interdisziplinäre Symbiose zwischen Humanities und Technikwissenschaft, die heute unter dem Begriff "Digital Humanities" eine neue Blüte erlebt. Ohne diesen Nährboden wäre der Eifer allerdings verpufft ...

Am Samstag entwickelte Justus Schollmeyer ein Konzept von Dialektik als Sprechbarmachen von Kontexten, auf die Altschuller (und wohl auch Marx) allenfalls implizit Bezug genommen haben. Kurt Bayertz ("Interpretieren, um zu verändern. Marx und seine Philosophie") hat dies für den philosophischen Hintergrund von Marx genauer auseinandergenommen, und auch Schollmeyer folgt dieser Lesart, dass für Marx Dialektik nur eine brauchbare Darstellungsform gewesen sei und weniger eine auch explizit sprechbare Denkform. Marx bewege sich in Hegelschen Begrifflichkeiten, ohne eigenständige Beiträge zu deren (philosophischer) Sprechbarkeit zu machen. Die "Deutsche Ideologie" (MEW 3) blieb Fragment und "der nagenden Kritik der Mäuse überlassen", als deren Selbstzweck (mit Engels) erreicht war – "Selbstverständigung". Die im Feuerbachkapitel festgeschriebenen Ansätze entreißen den Materialismus der Religion, allerdings ist der volumenmäßig größte Teil der "Deutschen Ideologie" eine Auseinandersetzung mit Stirner und bleibt unbefriedigend, denn es ist viel Polemik und heiße Luft, aber wenig Substanz zu finden. Steht aber Stirners Tirade "Was soll nicht alles meine Sache sein ..." nicht gerade für den Aufschrei des kreativ-kritischen Geistes gegen die kleinlichen Zumutungen, mit denen jener konfrontiert wird? Und wie steht es mit Holloways Erkenntnis "Am Anfang war der Schrei"? Mehr dazu in (Gräbe 2018).

Justus Schollmeyer ging davon aus, dass sich ein spezielles Verständnis von Technikgeschichte, das sich Anfang der 1930er Jahre in der Sowjetunion herausgebildet hat, nachdem soziale Widersprüche politisch nicht mehr sprechbar waren, in Altschullers Theorieansätzen manifestiert, die stark auf technische Widersprüche und Patentierbarkeit ausgerichtet sind und weniger auf Fragen der Einbettung solcher technischer in umfassendere sozio-kulturelle Widersprüche. Ein solcher Fokus passt gut in einen bürgerlichen Kontext und mag den Erfolg dieser methodischen Ansätze im Heute begründen. Allerdings ist eine solche Engführung des Technikbegriffs nicht nur aus einem spezifischen Verständnis von Technikgeschichte zu erklären, sondern auch Teil eines Komplexitätsreduktionsprozesses, in welchem Möglichkeitsräume nach dem Aspekt sozio-praktischer Veränderbarkeit vorstrukturiert und situative Sprechweisen dieser Strukturierung angepasst werden. Das ist deutlich in ingenieur-technischen Kontexten präsent. Der VDI geht in seiner Technikdefinition (VDI-Richtlinie 3780) über ein artefakt-zentriertes Denken hinaus und thematisiert auch "die menschlichen Handlungen" der Herstellung sowie des Einsatzes von Techniksystemen. In diesem Sinne geht (heutige) kapitalistische Logik bereits über (damalige) sozialistische hinaus. Allerdings bleibt generell unklar, in welchem Umfang eine "Systemimmanenz" bei derartigen Fragen überhaupt eine Rolle spielt bzw. in welchem Sinne hier der Systembegriff präsent ist. Die alte Frage "Barbarei oder Sozialismus" (Rosa Luxemburg 1916) ist nach Momenten der Barbarei im realen Sozialismus überholt und zu fragen, ob die Vision des Kommunistischen Manifests ("Die Kommunisten ...erklären offen, daß ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung. Mögen die herrschenden Klassen vor einer kommunistischen Revolution zittern. Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen.") nicht durch die 10. Feuerbachthese abzulösen ist, eine "menschliche Gesellschaft zu gewinnen". Das kann aber nur geschehen "mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist" (MEW 1) und sich damit gegen jede Form von Barbarei zu stellen, egal, in wessen Namen sie ausgeführt wird und mit welchen hehren Zielen. Noch einmal Stirner, obwohl Stirner den bürgerlichen Kontext nicht transzendiert.

Hans-Gert Gräbe, 04.02.2019