Attac.DenkTankStelle.2008-08-28: Unterschied zwischen den Versionen

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Das Einfachste wäre natürlich, Benjamins "Geschichtsphilosophische Thesen" herzunehmen als Grundlage. Leider gibt es die nicht so einfach online, weil offensichtlich die exklusiven Verlagsrechte noch nicht abgelaufen sind.
Aber vielleicht machen es ja auch These 2-4 aus meinen "Chemnitzer Thesen"
'''2)''' Der Gedanke, Gesellschaft ließe sich entwerfen und steuern wie eine Maschine, ist ein Kind
des ”langen 20. Jahrhunderts“, in welchem die Menschen durch Entwicklung von Wissenschaft
und Technik ihr Denkorgan als sechstes Sinnesorgan, die Fähigkeit zur Nutzung instrumenteller
Vernunft, in einem Umfang entfalteten, der Vergleichbares nicht kennt seit jenem
Tag im Paradies, als ”die Augen aufgetan waren“. Die damit verbundene Erweiterung der
Sinnes- und Handlungsmöglichkeiten der Menschheit vermittelt ein Gefühl der Allmacht, der
Entgrenzung der Gestaltungsmöglichkeiten, der Formbarkeit von Natur, die in einem neuen
Paradies, einem gewaltigen Produktionssystem zur Erfüllung fast aller materieller Bedürfnisse,
in einem ”sein wie Gott“, ihren vorläufigen Gipfelpunkt erreichte. (1. Moses 3,5)
'''3)''' Der Machbarkeitswahn der ”grandiosen Siege der Menschheit über die Natur“ beginnt jedoch
zu verfliegen. Die mit dieser gewaltigen Produktionsmacht gewachsene Handlungsmacht,
deren Produktiv- und Destruktivkraft, entwickelt eine Eigendynamik, die Menschsein zunehmend
aushöhlt und den Menschen letztlich zerquetschen wird, wenn er sich nicht aus seinem
Hamsterrad zu befreien vermag.
<blockquote>
“... ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark
ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in
die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel
wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“ ([1, These 9])
</blockquote>
Millionen sind diesem Fortschritt bereits zum Opfer gefallen. Nach der ethischen Katastrophe
von Auschwitz, deren unbewältigte Dimension heute nicht nur in der Dritten, sondern auch
im alltäglichen Faschismus der ”zivilisierten“ Welt ihre Fortschreibung findet, sind wir gerade
Zeuge einer sozialen Katastrophe bisher ungekannter Dimension, in der sich Menschen gegen
Menschen wenden ob der ihnen angetanen Ungemach, und sehen am Horizont bereits die
¨okologische Katastrophe näher kommen, in der sich Natur gegen die Menschen wendet ob
der ihr angetanen Ungemach. Der ”Riß im System des Stoffwechsels zwischen menschlicher
Gesellschaft und Umwelt“ [2] ist nie so groß gewesen wie heute.
'''4)''' Diese Krise der Industriegesellschaft ist zugleich Krise eines rationalen Vernunftbegriffs,
der einen ”Weltgeist“, ”Willen Gottes“ oder eine ”objektive Realität“ als einen dem Menschen
äußerlichen letzten Begründungszusammenhang postuliert. Gesellschaftlich vermittelte
Individualität — die aus der Kohärenz gestriger Erfahrungen gespeiste Kohärenz heutiger
Erwartungen, welche Zukunft vorstrukturiert — ist immer auch Menschenwerk. Sie als Menschenwerk
zu begreifen und bewusster humaner Gestaltung zugänglich zu machen ist dringlicher
denn je.
Die Alternative ”Barbarei oder Zivilisation“ wird zum kategorischen Imperativ, alle Barbarei
in der Zivilisation aufzuspüren, also alle jenen Momente, ”in denen der Mensch ein erniedrigtes,
ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“. (MEW 1, S. 385)
Dabei nicht den Täuschungen des sechsten Sinnes zu erliegen, bedarf der Entfaltung einer
primär aus der eigenen Lebenspraxis gespeisten kritischen Vernunft, die Es und Ich zu Lasten
des Über-Ich einander wieder näher bringt und ”sich den ’narzistischen Kränkungen’ stellt,
welche wissenschaftliche Forschungen seit Kepler und Kopernikus den menschlichen Subjekten zugefügt haben." ([3, S. 213]).
Dabei gilt es, die "Einheit von Tugend und Glückseligkeit" im Sinne des späten Kant neu zu versuchen [4]. Billiger ist sein kategorischer Imperativ nicht zu haben.
Würde im Selbst ist ein immanenter Teil von Menschenwürde. Dabei kann es auf Adornos Frage "Gibt es ein richtiges Leben im falschen?" heute nur noch eine Antwort geben: "Wir haben gar keine andere Wahl als es zu versuchen." ([5])
* [1] Benjamin, W., Geschichtsphilosophische Thesen, In: Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, Suhrkamp, Frankfurt/M. 39-74, 1965
* [2] Löwy, M., Destruktiver Fortschritt. Marx, Engels und die Okologie, Utopie kreativ 174. 306-315, 2005
* [3] Wolf, F. O., Grenzen und Schwierigkeiten der freien Kooperation, In: Gleicher als andere, Eine Grundlegung der freien Kooperation, Spehr, C., Texte der Rosa-Luxemburg-Stiftung 9, Karl Dietz Verlag, Berlin. 212-225, 2003
* [4] Wittenberger, W., Das Gute und das Böse oder wie Kant die Religion philosophisch beerbt, In: Aufklärung, Beiträge zur Philosophie Immanuel Kants, Bönisch, S., Texte zur Philosophie 15, Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen, Leipzig 67-90, 2005
* [5] Zwerenz, G., Elf Bemerkungen zu Sklavensprache und Revolte, In: Unabgegoltenes im Kommunismus, Der Funken Hoffnung im Vergangenen, Kinner, K., Diskurs - Streitschriften zu Geschichte und Politik des Sozialismus 17, Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen, Leipzig 72-80, 2004

Version vom 5. August 2008, 13:38 Uhr

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DenkTankStelle von Attac-Leipzig am Do, 28.08.2008 zum Thema Fortschritt.

JoHannes schreibt am 19.07.2008:

Schön wär's, wenn eine(r) ein paar Thesen vorher zusammenbrächte und sich auch gleich zur Moderation bekennt.

Nun, Thesen will ich nicht beitragen, sondern den Text "Innovative Linke" von Heiko Hilker anbieten, siehe http://zip-linke-programmdebatte.googlegroups.com/web/Hilker-InnovativeLinke.pdf

Außerdem könnte man mal das Buch "Sozialismus im 21. Jahrhundert" von E.Crome heranziehen, in dem immer hin ganze 8 (in Worten: acht) Seiten dem Thema "Wie geht Fortschritt" gewidmet sind.

Und wenn man nicht immer bei Null (oder heißt es "null"?) anfangen will und mal im LeipzigWiki nach dem Wort sucht, so kommen diese drei Stellen zu Tage: WAK:2006-12-14, WAK.2007-03-13, WAK.2008-01-09

--hgg 18:18, 21. Jul. 2008 (CEST)


Das Einfachste wäre natürlich, Benjamins "Geschichtsphilosophische Thesen" herzunehmen als Grundlage. Leider gibt es die nicht so einfach online, weil offensichtlich die exklusiven Verlagsrechte noch nicht abgelaufen sind.

Aber vielleicht machen es ja auch These 2-4 aus meinen "Chemnitzer Thesen"

2) Der Gedanke, Gesellschaft ließe sich entwerfen und steuern wie eine Maschine, ist ein Kind des ”langen 20. Jahrhunderts“, in welchem die Menschen durch Entwicklung von Wissenschaft und Technik ihr Denkorgan als sechstes Sinnesorgan, die Fähigkeit zur Nutzung instrumenteller Vernunft, in einem Umfang entfalteten, der Vergleichbares nicht kennt seit jenem Tag im Paradies, als ”die Augen aufgetan waren“. Die damit verbundene Erweiterung der Sinnes- und Handlungsmöglichkeiten der Menschheit vermittelt ein Gefühl der Allmacht, der Entgrenzung der Gestaltungsmöglichkeiten, der Formbarkeit von Natur, die in einem neuen Paradies, einem gewaltigen Produktionssystem zur Erfüllung fast aller materieller Bedürfnisse, in einem ”sein wie Gott“, ihren vorläufigen Gipfelpunkt erreichte. (1. Moses 3,5)

3) Der Machbarkeitswahn der ”grandiosen Siege der Menschheit über die Natur“ beginnt jedoch zu verfliegen. Die mit dieser gewaltigen Produktionsmacht gewachsene Handlungsmacht, deren Produktiv- und Destruktivkraft, entwickelt eine Eigendynamik, die Menschsein zunehmend aushöhlt und den Menschen letztlich zerquetschen wird, wenn er sich nicht aus seinem Hamsterrad zu befreien vermag.

“... ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“ ([1, These 9])

Millionen sind diesem Fortschritt bereits zum Opfer gefallen. Nach der ethischen Katastrophe von Auschwitz, deren unbewältigte Dimension heute nicht nur in der Dritten, sondern auch im alltäglichen Faschismus der ”zivilisierten“ Welt ihre Fortschreibung findet, sind wir gerade Zeuge einer sozialen Katastrophe bisher ungekannter Dimension, in der sich Menschen gegen Menschen wenden ob der ihnen angetanen Ungemach, und sehen am Horizont bereits die ¨okologische Katastrophe näher kommen, in der sich Natur gegen die Menschen wendet ob der ihr angetanen Ungemach. Der ”Riß im System des Stoffwechsels zwischen menschlicher Gesellschaft und Umwelt“ [2] ist nie so groß gewesen wie heute.

4) Diese Krise der Industriegesellschaft ist zugleich Krise eines rationalen Vernunftbegriffs, der einen ”Weltgeist“, ”Willen Gottes“ oder eine ”objektive Realität“ als einen dem Menschen äußerlichen letzten Begründungszusammenhang postuliert. Gesellschaftlich vermittelte Individualität — die aus der Kohärenz gestriger Erfahrungen gespeiste Kohärenz heutiger Erwartungen, welche Zukunft vorstrukturiert — ist immer auch Menschenwerk. Sie als Menschenwerk zu begreifen und bewusster humaner Gestaltung zugänglich zu machen ist dringlicher denn je.

Die Alternative ”Barbarei oder Zivilisation“ wird zum kategorischen Imperativ, alle Barbarei in der Zivilisation aufzuspüren, also alle jenen Momente, ”in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“. (MEW 1, S. 385)

Dabei nicht den Täuschungen des sechsten Sinnes zu erliegen, bedarf der Entfaltung einer primär aus der eigenen Lebenspraxis gespeisten kritischen Vernunft, die Es und Ich zu Lasten des Über-Ich einander wieder näher bringt und ”sich den ’narzistischen Kränkungen’ stellt, welche wissenschaftliche Forschungen seit Kepler und Kopernikus den menschlichen Subjekten zugefügt haben." ([3, S. 213]). Dabei gilt es, die "Einheit von Tugend und Glückseligkeit" im Sinne des späten Kant neu zu versuchen [4]. Billiger ist sein kategorischer Imperativ nicht zu haben.

Würde im Selbst ist ein immanenter Teil von Menschenwürde. Dabei kann es auf Adornos Frage "Gibt es ein richtiges Leben im falschen?" heute nur noch eine Antwort geben: "Wir haben gar keine andere Wahl als es zu versuchen." ([5])

  • [1] Benjamin, W., Geschichtsphilosophische Thesen, In: Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, Suhrkamp, Frankfurt/M. 39-74, 1965
  • [2] Löwy, M., Destruktiver Fortschritt. Marx, Engels und die Okologie, Utopie kreativ 174. 306-315, 2005
  • [3] Wolf, F. O., Grenzen und Schwierigkeiten der freien Kooperation, In: Gleicher als andere, Eine Grundlegung der freien Kooperation, Spehr, C., Texte der Rosa-Luxemburg-Stiftung 9, Karl Dietz Verlag, Berlin. 212-225, 2003
  • [4] Wittenberger, W., Das Gute und das Böse oder wie Kant die Religion philosophisch beerbt, In: Aufklärung, Beiträge zur Philosophie Immanuel Kants, Bönisch, S., Texte zur Philosophie 15, Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen, Leipzig 67-90, 2005
  • [5] Zwerenz, G., Elf Bemerkungen zu Sklavensprache und Revolte, In: Unabgegoltenes im Kommunismus, Der Funken Hoffnung im Vergangenen, Kinner, K., Diskurs - Streitschriften zu Geschichte und Politik des Sozialismus 17, Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen, Leipzig 72-80, 2004