WAK.2008-04-10

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1968. Ein Rückblick 40 Jahre danach.
Vortrag und Diskussion mit Dr. Manfred Lauermann, Soziologe, Hannover

am 10. April 2008, 19 Uhr im Städt. Kaufhaus, Universitätsstraße 16, Hs 2-08

Gemeinsame Veranstaltung der Hochschulgruppe Linke.SDS, von WAK Leipzig und dem Rohrbacher Kreis

Moderation: Falko Neubert

Ankündigung

2008 jährt sich 1968, der Höhepunkt der Studentenproteste der 60er Jahre, zum vierzigsten Mal und ist recht einseitigen Deutungen ausgesetzt:
Da handelt es sich um einen Generationenkonflikt zwischen Jung und Alt, um Krawallmacher, welche der RAF den Weg bereiteten oder wahlweise um Leute, die freie Liebe und Kommuneleben wollten. Die vorläufige Spitze des Eisberges erreichte der Historiker und Publizist Götz Aly, als er die 68er-Bewegung, den SDS und die APO mit der SA der NS-Zeit und dem Nationalsozialismus an sich gleichsetzte.

Es wird kaum der Versuch unternommen, “die” 68er differenziert zu betrachten, welche bei weitem kein monolithischer Block waren. Ihre politischen Ziele, der theoretische Hintergrund ihres Denkens, der historische Kontext, ihre Handlungsansätze und vieles mehr bleiben im Dunkeln hysterischer Publikationen, die vor dem gesellschaftskritischen Gehalt der 68er-Bewegung und dessen Aktualität zurückschrecken.

Im Gespräch mit Manfred Lauermann, selbst ein 68iger und Akteur des Studentenprotests in Hannover, versuchen wir Bilanz zu ziehen und zu klären, wer “die 68er” in Westdeutschland (und in den USA, Frankreich, Prag, ...) eigentlich waren, woher sie sich ihr geistiges Rüstzeug holten, was sie wirklich wollten und was sie erreicht haben. Vielleicht können die modernen sozialen Bewegungen von den Erfolgen und Fehlern der 68er lernen... ?

Bericht

Die Ereignisse vor 40 Jahren geben derzeit Anlass zu vielfältigen Erinnerungen, Rückblicken und Reminszenzen. Die meisten von ihnen, die es bis in die Tagespresse schaffen (etwa die LVZ-Reihe im April 2008, Jürgen Elsässers Beitrag im ND 11.04.2008) sind auf einzelne Akteure ausgerichtet wie Rudi Dutschke, die Ereignisse in Deutschland oder beziehen noch den Pariser Mai mit ein (etwa die Beilage "Sacco und Vanzetti" zum ND 12.04.2008 oder dielinke.campus 4/2008).

Lauermann wies eingangs der als Befragung durch den Moderator gestalteten Diskussion darauf hin, dass eine solche Sicht zu eng ist und die Einbettung der 68er Ereignisse in den geschichtlichen Prozess nur unzureichend würdigt. Die 68er Bewegung war eine internationale, die ihren Ausgang in den Protesten Mitte der 60er Jahre gegen den Vietnamkrieg vor allem in den USA nahm und auf mehrere europäische Länder (neben Deutschland vor allem Frankreich und Italien) in unterschiedlicher Weise übergriff. In jedem dieser Länder nahm die 68er Bewegung einen unterschiedlichen Verlauf und ergriff unterschiedliche Schichten. Während in den Pariser Maitagen mit großen Streiks über eine Million Menschen im Ausstand waren und sich auch gestandene Arbeiter in nennenswertem Umfang an den Ereignissen beteiligten, blieb die 68er Bewegung in Deutschland eine Schüler- und Studentenbewegung.

Ein anderer wichtiger Kristallisationspunkt waren die Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt, unter denen Kuba neben Vietnam für die 68er eine besondere Rolle spielte. Diese waren durch einzelne Persönlichkeiten wie Ho Chi Minh, Fidel Castro und Che Guevara geprägt, deren Schriften und Positionen auch in der 68er Bewegung eine zentrale Rolle spielten.

Unter den vielen Büchern zum Thema, die derzeit den Markt überschwemmen, wird dies in dieser Komplexität so gut wie nicht reflektiert. Lesenswert sei vor allem eines:

Ingrid Gilcher-Holtey: Die 68er Bewegung. C.H. Beck Verlag, München 2001. http://www.perlentaucher.de/buch/7771.html

In Deutschland war die Bewegung stark geprägt durch die extrem reaktionären Verhältnisse, die sich in den 20 Jahren nach Kriegsende herausgebildet und verfestigt hatten und in der Person des Uraltkanzler Adenauer sowie in ungebrochenen Karrieren hoher Beamter aus dem Dritten Reich ihren sichtbaren Ausdruck fanden. Man könne sich das gar nicht mehr vorstellen, mit welcher Selbstverständlichkeit Leute mit der Vergangenheit eines Globke oder Filbinger in ihre Ämter gewählt wurden, wo sich heute sofort ein medialer Entrüstungssturm entladen würde. Die SPD schwenkte auf diese Richtung mit dem Godesberger Programm von 1959 ein und warf damit die sozialistische Programmatik, die sie sich nach dem Krieg gegeben hatte, über Bord. Die linken kritischen Kräfte, die sich im SDS gebündelt hatten, wurden kurz darauf aus der Partei geworfen. Die Verkürzung auf "Revolte" nimmt allerdings nicht wahr, in welchem Umfang es sich auch um die Suche nach neuen Lebensentwürfen handelte und welche Rolle dabei die Aneignung linken Gedankenguts gespielt hat.

Auf Rolle und Geschichte des SDS angesprochen, wies Lauermann auf dessen Entwicklung vom Rausschmiss aus der SPD 1960 bis zu dessen Selbstauflösung im Jahre 1970 hin. Eine Reihe von der SPD ursprünglich verbundener Professoren wie Wolfgang Abendroth (Marburg) und Herbert Marcuse (Frankfurt) nahmen die mit dem Rausschmiss des SDS aus der SPD verordnete Abgrenzung nicht hin, wirkten in diesem Umfeld weiter und spielten eine wichtige Rolle für die Entwicklung theoretischer Konzepte. Allerdings waren die führenden Köpfe der Bewegung, die "Kader" (Lauermanns Kriterien: man musste in einer der Kommunen leben und wenigstens einmal auf einer der großen Veranstaltung gespochen haben), durchweg junge Leute wie Dutschke oder eben auch Lauermann, der in Hannover eine wichtige Rolle spielte. Der hohe Theoriekonsum auf der Suche nach eigenen neuen Lebensentwürfen führte zur Herausbildung von drei SDS-Linien, den Antiautoritären (vor allem in Frankfurt um Marcuse), den Traditionalisten (vor allem in Marburg um Abendroth) und den Anarchisten (Hannover, Heidelberg, Berlin). Eine der letzten großen Leistungen des SDS war dessen aktive Selbstauflösung im Jahre 1970, die aus der klaren Erkenntnis heraus erfolgte, dass zu jener Zeit ein Kristallisationspunkt wie der SDS seine Bedeutung verloren hatte. Aus den Resten derer, die das für sich nicht begriffen haben, entstanden wenigstens 5 K-Gruppen der 70er Jahre. Aus dem Spektrum entwickelten sich Ende der 70er Jahre dann auch die Grünen, wobei jene Grünen mit Führungsfiguren wie Petra Kelly mit den heutigen kaum noch zu vergleichen seien.

Auf die letzte Frage des Moderators "Was können wir heute daraus lernen?" antwortend wies Lauermann darauf hin, dass den Akteuren der Spagat zwischen Offenheit und Nicht-Beliebigkeit immer bewusst war. Es ging darum, die Vielfalt von Ansätze und Zugänge zu erhalten und doch zu Aktionsfähigkeit zu kommen. Die Kohärenz in der Bewegung wurde nicht durch ein gemeinsames theoretisches Fundament oder gar ein gemeinsames Programm hergestellt, sondern durch vage Kristallisationspunkte wie

  • Antifaschismus (Widerstand gegen das unkritische Verhältnis zu den Ereignissen 33-45 und gegen Erscheinungsformen des alltäglichen Faschismus),
  • Antiimperialismus,
  • Antimilitarismus (Widerstand gegen den Krieg des Westens vor allem gegen Vietnam sowie gegen verschiedene Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt sowie gegen die Rüstungsindustrie).

Der in dieser Bewegung virulente Marxismus trug dabei viele Züge des Anarchismus. Und, so Lauermann zum Schluss, "wir hatten eine viel höhere Diskussionskultur als die Linke heute".

Hans-Gert Gräbe, 12.04.2008