Solidarische Ökonomie

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Einen sehr guten Überblick zum Thema gibt IMHO Hartwig Daniels (innerhalb der Wachstumsdebatte bei Attac Deutschland): Solidarische Ökonomie als Alternative, 3 Seiten PDF - hier fürs Wiki formatiert:


Hartwig Daniels: Solidarische Ökonomie als Alternative

Wir fragen uns: Kann Solidarische Ökonomie (SÖ) eine „Keimzelle“ einer anderen, von Wachstumszwang befreiten Wirtschaftsordnung sein?

1. Was ist SÖ und wie ist sie entstanden?

2. Wie steht SÖ zu Wachstum?

3. Was gibt es bereits an solidarökonomisch organisierten Wirtschaftsunternehmen?

4. Wie können wir Bestehendes weiterentwickeln und neue Projekte einer SÖ initiieren?


1. Was ist SÖ und wie ist sie entstanden?

SÖ ist kein Modell einer alternativen Wirtschaftsordnung. In der SÖ werden Handlungsmaxime und ethische Grundsätze aufgestellt und im Rahmen von demokratischen Prozessen umgesetzt. Sie ist eine emanzipatorische Bewegung. Sie will aus Keimformen heraus die gesellschaftliche Identität von Produktion und Konsumtion auf allen Ebenen der Wertschöpfung wiederherstellen. Entstehung: Genossenschaftliche Selbsthilfeorganisationen in den Bereichen Konsum, Produktion, Wohnen, Spar- und Kreditvereine, Hilfskassen im Europa des 19. Jahrh. Weltweit: 80% aller Arbeitsplätze in den Entwicklungsländern sind (noch) solidarökonomisch organisiert, neue Formen haben sich mit Unterstützung von Regierungen, Gewerkschaften und Universitäten weltweit, vor allem aber in Lateinamerika entwickelt. Das WSF in Porto Allegre 2005 hat den Gedanken propagiert, der Berliner Kongress von 2006 hat den Begriff auch in Deutschland als Sammelbegriff für ein breites Spektrum von selbstorganisierten Initativen, Kooperativen, Vereinen, Genossenschaften und Gemeinschaften mit anderen Rechtsformen aber gleichen Maximen werden lassen. Grundsätze (entstanden aus den Prinzipien des Genossenschaftswesens): Um die Grundsätze anschaulich zu machen, hier eine (ungewichtete und unvollständige) Gegenüberstellung von solidarökonomischen Zielen und kapitalistischer Wirtschaftslogik:

  • Kooperativ - Konkurrierend,
  • demokratische Verfügung über gemeinsam erwirtschaftete Überschüsse - Akkumulation von privat angeeigneten Profiten,
  • Gemeinnützigkeit - Individueller Nutzen
  • Bedarfsorientierung - Renditeorientierung
  • Selbstbestimmt - fremdbestimmt leben und arbeiten
  • Commons/Almende - Privatisierung unserer natürlichen Lebensgrundlagen und ihres Nutzens
  • Glück innerhalb von sozialen Beziehungen und im Naturverhältnis, Sinnhaftigkeit und Lebensqualität - Befriedigung durch Konsum und Konsumsteigerungen,
  • Nachhaltigkeit: Erhaltung und Weitergabe unserer natürlichen Umwelt - Verbrauch von Ressourcen, Umweltzerstörung
  • Suffizienz - Wachstum
  • (....)

Es geht also um eine ziemlich umfassende Neuorientierung, einen Wertewandel und veränderte Rahmenbedingungen des Wirtschaftens. Eine SÖ will eine solidarische Gesellschaft und ist daher mehr als die Gesamtheit einzelner Projekte und Unternehmen. Sie ist ein politisches Projekt. Ihr Gelingen hängt deshalb von der dauerhaften solidarischen Orientierung aller Beteiligten ab. Folgende Grundsätze sind aus den Grundsätzen des Genossenschaftswesens hervorgegangen, enthalten wesentliche Aspekte, die ich genannt habe oder werden häufig um diese Aspekte erweitert.

  • Identitätsprinzip (Konsument / Produzent, Bauherr / Mieter, Schuldner / Gläubiger ...) -> nicht bei Produktivgenossenschaften.
  • Demokratische Unternehmenskultur (nominales Stimmrecht, Partizipation, Transparenz, Rechenschaftspflicht)
  • Inklusives Eigentum (Nutzungseigentum)
  • Bedarfsorientierung
  • Zweckbindung der Überschüsse
  • Soziale Einbindung


2. Wie steht SÖ zu Wachstum?

Wachstum - verstanden als BIP - ist eine statistische Kennzahl für die mehr oder minder erfolgreiche Verwertung von Kapital aus der Interessenperspektive von Investoren und politischen Eliten. Ein direkter Bezug zu ethischen und moralischen Werten oder gesellschaftspolitischen Zielen ist nicht gegeben. Von daher ist Wachstum grundsätzlich im Umfeld einer SÖ „systemfremd“. In einer Genossenschaft - als Beispiel für einen solidarökonomischen Betrieb - wird kein Kapital verwertet, um für Investoren oder Eigentümer, die nicht auch Genossen sind, eine frei verfügbare Rendite zu erwirtschaften, die dann dem Unternehmen u.U. nicht mehr zur Verfügung steht. Statt dessen werden Überschüsse erwirtschaftet, die als Rückstellungen im Betrieb bleiben oder anteilig den Genossenschaftsmitgliedern zufallen. Varianten in der Verwendung sind Rabatte oder Rückvergütungen in Konsumgenossenschaften oder Erzeuger-Verbraucher-Gemeinschaften, Steuern oder Beiträge zur Solidarkapitalbildung, das der Unterstützung anderer Betrieben einer SÖ dienen kann.


3. Was gibt es bereits an solidarökonomisch organisierten Wirtschaftsunternehmen?

(unvollständige Beispielsammlung)

  • Kooperative Betriebsübernahmen zur Beschäftigungssicherung (selbstverwaltete Betriebe, Produktivgenossenschaften, Kooperativen, häufiger Anlass: Insolvenz oder drohende Insolvenz)
  • Unterstützungsgenossenschaften
  • Lokale Existenzsicherungs-Genossenschaften benachteiligter Menschen (Arbeitsloseninitiativen, Behindertenhilfe ...)
  • Genossenschaften und Genossenschaftsverbände: umfassende regionale Versorgungsnetze (Mondragon, Cercosesola - seit 40 Jahren mit 85 demokratischen Kooperativen und gemeinnützige Vereine mit mehr als 1.000 Mitarbeitern), Beispiele für Reproduktionsgenossenschaften. Ca. 70.000 Genossenschaften in Italien...
  • Produktivgenossenschaften überwiegend hochqualifizierter Kräfte (z.B. IT, Medizin, Kultur)
  • Sozial-, Bildungs-, Kultur- und Gesundheitsgenossenschaften (gegen Privatisierung und Kommerzialisierung)
  • Komplementärwährungen (Zeitbank), lokale Bankkooperativen und Investmentfonds, ethische Geldanlagen
  • Erzeuger-Verbraucher-Gemeinschaften zur qualitativen Verbesserung der Versorgung, zur Ausrichtung am Bedarf und zur günstigeren Versorgung, Vermarktungskooperativen
  • Kooperativen und Fonds zur Vergesellschaftung von Bereichen öffentlicher Daseinsvorsorge (Wohnung, Wasser, Energie) gegen Privatisierung und Kommerzialisierung („genossenschaftliche Privatisierung“, Trondheim!)
  • Kooperativen im Gesundheitswesen: medizinische Versorgung und Krankenversicherung, im Schul- und Pflegebereich als eine Antwort auf die Enteignung von öffentlichen Einrichtungen und Leistungen
  • Alternative Geldsysteme zur Förderung regionaler Wertschöpfung und sozialer Integration
  • Hilfe auf Gegenseitigkeit, Nachbarschaftshilfe, geldloser Tausch, professionelle Hilfe
  • Aneignung von Boden zwecks Wiedergewinnung von Subsistenzmöglichkeiten in Städten
  • Alba: Gerechter Austausch in einer regionalen Wirtschaftsgemeinschaft,
  • „Fairtrade“
  • Wissensalmende und Kooperativen für freie Wissensresourcen (IT, Wikipedia u.a.)

Eigentumsformen: Kooperativen, Genossenschaften, Belegschaftsübernahmen, Landbesetzungen, Community Land Trusts, Kommunen (Gemeinschaftsbesitz und gemeinsame Kasse), Gemeinwesenbetriebe, Freies Wissen, Gratisökonomie (z.B. Umsonstläden), ohne Rechtsform (z.B. Nachbarschaftshilfe, Ehrenämter) u.a.m.


4. Wie können wir Bestehendes weiterentwickeln und neue Projekte einer SÖ initiieren?

SÖ entsteht und entwickelt sich im Rahmen von gesellschaftlichen Transformationsprojekten. Das bedeutet: es handelt sich um eine schrittweise Emanzipation aus bestehenden ökonomischen Strukturen heraus. Der Weg ist die Selbstorganisation in konkreten Projekten, die Beteiligung ist demokratisch und freiwillig Eine SÖ will eine solidarische Gesellschaft und ist daher mehr als die Gesamtheit einzelner Projekte und Unternehmen. Sie ist ein politisches Projekt. Ihr Gelingen hängt deshalb von der dauerhaften solidarischen Orientierung aller Beteiligten ab. Auf der politischen Makro-Ebene müssen Weichenstellungen angestrebt werden, die diese Entwicklung begünstigen:


Beipiele für politische, rechtliche, strukturelle und kulturelle Rahmenbedingen

  • Gerechtigkeit und Fairness in den Beziehungen zu Entwicklungsländern, globale Idee der Suffizienz (Forderungen auch: Effizienz, Konsistenz)
  • Primat der Politik gegenüber der Privatwirtschaft
  • Gesetzliche Reform der Betriebsverfassung mit dem Ziel einer fortschreitenden erweiterten Mitarbeiterbeteiligung (Demokratisierung / Vergesellschaftung der Wirtschaft)
  • Strukturreformen in der Finanzierung von Gemeinschaftsaufgaben und der öffentlichen Entschuldung: Unabhängigkeit von BIP-Wachstum durch alternative Organisation und Finanzierung von Instrumenten der Arbeitsmarktpolitik, Alterssicherung, Gesundheitsvorsorge, Armutsbekämpfung, Bildung etc.
  • Abbau von Subventionen gegenüber der Privatwirtschaft (Internalisierung der tatsächlichen Kosten - Energie, Umwelt - Private Aneignung von Rohstoffen, Verschmutzungsrechte, Internalisierung sozialer Folgekosten kapitalistischen Wirtschaftens)
  • Schutz und Weiterentwicklung bestehender Gesetze, die alternative Wirtschaftsformen betreffen (Genossenschaftsgesetz, Steuergesetzgebung, Hilfe zur Übernahme von insolventer oder insolvenzbedrohter Betriebe - Marcora, usw.) - Genossenschaften in der Verfassung absichern
  • Aufbau von Unterstützerstrukturen:
    • Staatlich initiierte Unterstützung über Agenturen, Regierungsstellen und öffentlich-rechtliche Einrichtungen (Universitäten), vor allem zur finanziellen Unterstützung und zur Beratung von Projekten der SÖ, Gründungszentren, Weiterbildung etc.
    • Kooperation zwischen solidarökonomischen Betrieben, Vereinen, Gewerkschaften, Kommunalpolitik, und zivilgesellschaftlichen Gruppen und sozialen Bewegungen, Vernetzung (auch international)
    • Kooperation von Anspruchsgruppen im Zusammenhang von Aufgaben der gesellschaftlichen Reproduktion (Familie, Kinder, Bildung, Gesundheit...)
    • Politische Interessenvertretung durch Verbände und Fachleute im Bereich der SÖ auf allen Ebenen von Politik und Verwaltung
  • „Gestaltende Sozialpolitik“ besonders auf lokaler Ebene, die Selbstorganisation fördert. Ausgangspunkt: Arbeitslose und andere benachteiligte Bevölkerungsgruppen
  • Diskriminierung von Selbstorganisation abstellen und Angriffe auf den solidarischen Sektor abwehren
  • Sozial-ökologische Auflagen bei der Vergabe öffentlicher Aufträge durchsetzen
  • Konkurrenz im Umgang miteinander und als Verhalten in Unternehmen durch Kooperation ersetzten, „Kultur der Solidarität“
  • Kampf gegen die Kommerzialisierung aller Lebensbereiche
  • Politisches Engagement für einen Politikwechsel, Mobilisierung

Einige Praktische Schritte hin zu einer Solidarischen Ökonomie

  • Abwehr von Privatisierungen, Wiederaneignung und Überführung enteigneter Bereiche der Daseinsvorsorge in genossenschaftlicher Regie
  • Gründung von lokalen Projekten in allen genannten Bereichen der gesellschaftlichen Reproduktion
  • Betriebsübernahmen und Gründung genossenschaftlich organisierter Unternehmen
  • Vergesellschaftung öffentlicher Leistungen durch Vereine, Kooperativen und Genossenschaften in Zusammenarbeit mit Unterstützergruppen (Trondheim!)
  • Tendenzielle Ausschaltung des Marktes durch Mitgliederwirtschaft und Identitätsprinzip (Anspruchsgruppen müssen zusammenfinden), sowie durch die Integration lokaler Kreisläufe Solidarischer Ökonomie (im Idealfall: Verselbständigung und Unabhängigkeit der Entwicklung von kapitalistischen Markt[Macht-]bedingungen)
  • Abhängigkeiten in der Projektfinanzierung vom Finanzmarkt durch alternative Finanzierungsmodelle abbauen, Solidarisierung in der Finanzierung, Direktkredite, Fonds, Genossenschaftsbanken u.ä.
  • Vernetzung mit anderen gesellschaftlichen Gruppen, Unterstützung durch die Gewerkschaften suchen
  • Werbung für SÖ, politisches Engagement für einen Politikwechsel, Mobilisierung
  • Für die richtigen Rahmenbedingungen kämpfen!
  • Durchsetzung des Primats der Politik gegenüber der Privatwirtschaft
  • Rückeroberung und Ausweitung der demokratischen Kontrolle über Staat und Verwaltung: Partizipation, Transparenz, Rechenschaftspflicht einfordern
  • Gesetzliche Reform der Betriebsverfassung voranbringen mit dem Ziel einer fortschreitenden erweiterten Mitarbeiterbeteiligung (Demokratisierung / Vergesellschaftung der Wirtschaft)


Johannes Agnoli: „Können Menschen in ein menschlicheres System hineinwachsen, wenn sie dies nicht vorher erfahren und betrieben haben? Eine Organisation, die sich die Emanzipation zum Ziel setzt, muss in der Lage sein, im Vorlauf zu diesem Ziel selber die Emanzipation zu verwirklichen. Eine Organisation, die, um die Emanzipation zu erzielen, sich eine hierarchische Struktur gibt, wird unmöglich dieses Ziel erreichen. Gerade die Geschichte der sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien zeigt das“.

(Autor: Hartwig Daniels)


Verweise: