WAK:2007-03-22

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Marxismus und Psychoanalyse.
Der sekundäre Krankheitsgewinn als Scharnier zwischen den Funden Marx' und Freuds.
mit Dr. Fritz Erik Hoevels (Freiburg)
Gemeinsame Veranstaltung der Gesprächskreises WAK Leipzig und des Stirner-Archivs Leipzig im Rahmen der Buchmesse
22. März 2007, 20:00 Uhr, Haus der Demokratie, B.-Göring-Straße 152

Ankündigung

Die Quintessenz der Veranstaltung "Marxismus und Psychoanalyse - 100 Jahre Siegmund Freud" des philosophischen Arbeitskreises der RLS Sachsen mit Siegfried Kätzel und Walter Friedrich am 23.5.2006 nach über zwei Stunden Referat und Diskussion lautete (u.a.): Man müsste nun wirklich mal über Marxismus und Psychoanalyse sprechen. Ein Thema, das deutlich über Marx und Freud hinausgehen müsste, die - aus zu analysierenden Gründen - jeweils an der Grenze stehengeblieben sind. Die stringenteste Analyse dieses Phänomens wird wohl in Hoevels Klassiker "Marxismus, Psychoanalyse, Politik" (Ahriman-Verlag, Freiburg 1983) gegeben, in dem die Brücke zwischen Marxismus und Psychoanalyse in konsequenter Fortsetzung von Ansätzen aus den fruchtbaren Jahren Wilhelm Reichs weitergebaut wird. In "Wilhelm Reichs Beitrag zur Psychoanalyse" (Ahriman Verlag, Freiburg 2001) wird das Thema durch Hoevels weiter vertieft. Dass bei einer Thematik mit solcher Sprengkraft - immerhin geht es um die Suche nach den Wurzeln innerer Widerständigkeit - Animositäten und Irritationen nicht ausbleiben, mussten wir im Zuge einer ersten Einladung im Oktober 2006 erfahren. Umsomehr freuen wir uns, im nunmehr zweiten Anlauf mit dem Gast aus Freiburg ins hoffentlich fruchtbare Gespräch zu kommen. (Hans-Gert Gräbe)


Der primäre Krankheitsgewinn (bei der Störung bzw. Leistungsminderung psychischer Funktionen) ist einförmig: das "Überich" gibt Ruhe bzw. lässt in seiner Aggression nach. Der sekundäre ist vielfältig: die Gesellschaft kann psychische Störungen (z.B. religiösen Glauben) gezielt bzw. strukturell "belohnen", meist negativ (durch unterlassene Verfolgung oder Belästigung). Auf diese und ähnliche Art enstehen Ideologien durch "Memselektion".

Die "Theorie der kognitiven Dissonanzreduktion" des Psychologen Festinger erlaubt uns weitere Einsichten in die Entstehung, vor allem aber Funktion der Ideologie. Sie dient der standardisierten KDR-Bahnung in ihren Zwangsempfängern und gewinnt so erheblich an Durchschlagskraft; die bewaffnete Gewalt zur Aufrechterhaltung ungerechter Herrschaft würde andernfalls fast unbezahlbar. (Fritz Erik Hoevels)

Berichte und Kommentare

Mit gut 50 Hörern hatte diese gemeinsam mit dem Stirner-Archiv Leipzig organisierte Veranstaltung von WAK-Leipzig eine unerwartet große Resonanz. Nach den Querelen im Vorfeld um die Einladung von Fritz-Erik Hoevels war das kaum zu erwarten gewesen, zeigt aber, dass wir mit Thema und Referent offensichtlich einen Nerv der heutigen Zeit getroffen haben.

Fritz-Erik Hoevels, bekannter Autor psychoanalytischer Literatur in der unverfälschten Tradition von Siegmund Freud und Wilhelm Reich und über dreißigjähriger Erfahrung aus eigener psychotherapeutischer Praxis, ist allerdings auch wie kaum ein anderer prädestiniert, die subtilen Beziehungen, Querverbindungen und Berührungsprobleme zwischen Marxens Gesellschaftsanalyse und Freuds Psychoanalyse herauszuarbeiten und das "Scharnier" zwischen beiden - ihre gemeinsame und sich gegenseitig ergänzende ideologiekritische Potenz - im Phänomen des sekundären Krankheitsgewinns zu beschreiben.

Die Herleitung dieser Verbindung stand auch im Mittelpunkt des Vortrags, wobei Hoevels zunächst das Phänomen der kognitive Dissonanzreduktion (KDR) nach Festinger ausführlich erläuterte. Es geht dabei um die Verarbeitung von zwei unmittelbar miteinander verbundenen Wahrnehmungen (Kognitionen), deren Bewertungen sich widersprechen und damit ein Gefühl des Unbehagens auslösen. Funktional ist ein solches Gefühl wohl ein vorbewusster Reflex auf eine mögliche Gefahr, die oft aber nur in der Phantasie existiert. Wenn derartige Dissonanzen nicht aktiv aufgelöst werden oder werden können, kommt es zur Verdrängung der weniger dominanten Wahrnehmung. Hoevels' instruktives Beispiel sei hier kurz reproduziert: Zwei Gruppen von Arbeitern werden über eine längere Zeit mit unangenehmen Arbeiten beauftragt, die eine gut, die andere sehr schlecht bezahlt. Dann wird über eine Fragebogenaktion die Zufriedenheit mit der Arbeit erfasst. Es stellt sich (empirisch gut belegt) heraus, dass sich die zweite Gruppe als zufriedener bezeichnet. Da die Wahrnehmungen der ersten Gruppe nicht dissonant sind (schlechte Arbeit, dafür aber gut bezahlt), tritt der Verdrängungseffekt nicht ein. Die zweite Gruppe dagegen ist mit dissonanten Wahrnehmungen (unangenehme Arbeit, aber keineswegs gut bezahlt) konfrontiert und verdrängt die leichter zu verdrängende Wahrnehmung - sie redet sich die Arbeitsbedingungen schön.

Diese Art der immer wieder auf dieselbe Weise zu erlebenden Verdrängung wird als "primärer Krankheitsgewinn" bezeichnet, denn er führt zu einer psychischen Entlastung unter für das Individuum unangenehmen Rahmenbedingungen, indem innere Spannungszustände auf diese Weise reduziert werden, auch wenn es vielleicht langfristig sinnvoller wäre, durch Einsatz des Verstands diese Rahmenbedingungen zu ändern. Eine insbesondere machtförmig strukturierte Gesellschaft hat nun auch eine Vielzahl äußerer Mechanismen entwickelt, um genau eine solche "Renitenz" zu unterbinden, indem an Erwartungen angepasstes Verhalten eher belohnt wird, derart angepasste Menschen größere soziale Möglichkeiten eingeräumt bekommen, bei Beförderungen bevorzugt werden usw. Verdrängen wird also durch soziale Mechanismen belohnt, obwohl dies inhärent von einer wirklich menschlichen Gesellschaft wegführt, und die Verdrängungsmechanismen verstärkt. Die Gesellschaft klopft dem weniger Renitenten noch auf die Schulter und beschert ihm auch einen "sekundären Krankheitsgewinn".

Dies führt schließlich dazu, dass größere Bereiche der eigenen Psyche dem "Ich", der bewussten verstandesgemäßen Analyse, entzogen werden, in ein unbewusstes "Es" abbröckeln und diese Keime von Renitenz durch von außen hineingetragene und verinnerlichte "Über-Ich"-Sätze zuverlässig vor einer Revitalisierung geschützt sind. Es handelt sich dabei um ein mächtiges Gesellschaft stabilisierendes Element, das auf der Seite von Marxens Gesellschaftsanalyse Gegenstand der Ideologiekritik ist. Allerdings wird an dieser Stelle schon deutlich, warum Ideologiekritik praktisch weitgehend wirkungslos bleibt, wenn sie vor allem an den Verstand appelliert.

In eigenartiger Diskrepanz zu den stringenten Ausführungen des Referenten und dem Interesse an der Thematik, welches sich schon allein in der Besucherzahl dieser von uns nur mäßig beworbenen Veranstaltung dokumentiert, stand die doch nur spärlich tröpfelnde Diskussion. Sicher sind es ungewohnte Gedankengänge, die ein Spotlicht in die Tiefen auch der eigenen Seele richten, wo es seine Zeit braucht, um sich überhaupt erst einmal zu orientieren.

Die Diskussion kam, wie im Osten nicht anders zu erwarten, auch schnell bei KDR im DDR-Alltag an. So stringent die Ausführungen zum KDR-Mechanismus selbst waren, so wenig konnte ich die Anwendungen des Referenten auf ein Verständnis entsprechender Phänomene nachvollziehen. Im Durchschnitt geringere KDR-Wirkungen auf DDR-Bürger primär mit mangelnder Konsequenz der Verfolgung von Renitenz durch die DDR-Führung zu erklären greift zu kurz. Dass eine solche "mangelnde Konsequenz" trotz allgegenwärtiger Stasi nicht nur als "Schild und Schwert", sondern auch als "Augen und Ohren" der Partei(- und Staatsführung) mit Blick auf stalinistisch-terroristische Traditionen ein schlichter historischer Fakt ist, ich also Hoevels nicht die heutige Stasi-Hysterie als Argument entgegenhalten will, sei vorausgeschickt. Aber war diese Führung nicht selbst gefangen in den Zwängen der Eigendynamik eines Systems? War diese Führungsriege nach einem verheerenden Krieg nicht ursprünglich mit der Devise angetreten, Marxens Idee von der "freien Entfaltung der einzelnen als Bedingung für die freie Entfaltung aller" in die Tat umzusetzen und dabei Aufbauwillen, Innovationskraft und Initiative mit einem speziellen Verständnis sozialistischer Ideen zu verbinden? Hätten die Ulbrichts und Honeckers es ganz anders machen können oder sind es nicht eher die Eigengesetzlichkeiten des eingeschlagenen Entwicklungswegs, die - mit einiger Streuung - genau solche Personen in genau diese Positionen "gespült" haben? Sind es also nicht genau dieselben Mechanismen, die Quelle "sekundärer Krankheitsgewinne" sind, die (auch hier) gesellschaftliche Dynamik erzeugt und Stabilität reproduziert haben?

Sicher ist die Wirkung der KDR bei Menschen, die sich aktiv mit der DDR identifiziert haben, im Durchschnitt größer, weil sie weniger ihren Zweifeln nachgegangen sind. Aber ist die DDR nicht letztlich doch am Spagat zerbrochen, Kreativität und Initiative zu befördern und zugleich den kritischen Geist zu bannen? Ist die eigentümlich mechanistische Vorstellung vom "gesetzlichen Verlauf der gesellschaftlichen Entwicklung" nicht gerade Ausdruck dieses Spagats, der in der Praxis nie so recht funktioniert hat? Was bedeutet das für "Nachdenken über Sozialismus im 21. Jahrhundert"? Dass KDR mit einer Beamtenmentalität des "funktionierenden Schräubchens" gut harmoniert ist einsichtig. Aber im welchem Verhältnis stehen KDR und initiatives, unternehmerisches, selbstbestimmtes Handeln? Schließlich ist das Ergebnis der Dissonanzreduktion mit dem Zusammendrücken und Arretieren einer Feder zu vergleichen, was Handlungsoptionen einschränkt und Initiativkraft unterläuft. Ist dieses Ver- und Entriegeln nicht Ausdruck von immerwährender Ambivalenz gesellschaftlicher Entwicklung als Prozessieren von kleinen und großen Widersprüchen? Und bringt "Entriegeln" nicht Instabilitäten in das gesamte System, die von jenem nur absorbiert werden können, wenn es eine neue Gleichgewichtslage findet, die nicht das Arretieren gerade dieses konkreten Phänomens erfordert? Und selbst das Entriegeln konkreter Sperren - insoweit es als Massenphänomen auftritt - ist ja ein Phänomen des Systems selbst, das nur aus dessen Dynamik der Eigengesetzlichkeit verstanden werden kann. Ist also zunehmende Produktion von KDR in einem System ein untrügliches Zeichen für dessen Verknöcherung? Und rüttelt initiatives, unternehmerisches Handeln nicht an der Arretierung? Was bedeutet es, wenn bereits diese Gesellschaft aus rein funktionalen Gründen solches Handeln zunehmend einfordert? Kann "Sozialismus im 21. Jahrhundert" wirklich erst und nur durch einen Systemwechsel zu Stande kommen oder ist er längst "in der Pipeline" einer "kommunistischen Vernetzung der Sachen" (Kurz 1994)? Fragen über Fragen, an denen wir deshalb im Rahmen von WAK Leipzig auch weiterhin dran bleiben wollen.

Dass an diesem Abend die wenigen Diskussionsansätze dann auch noch im Keim steckenblieben, hat allerdings auch mit den Antworten des Referenten zu tun, die eine Sicherheit ausstrahlten, die kaum Ansätze der Ambivalenz von Urteilen erkennen ließen und solche Töne bei den Nachfragenden nicht wirklich ernst nahmen. Nach meinem ausführlichen Plädoyer, die subtile Wirkung des KDR-Phänomens im Zusammenspiel der je ambivalenten Wirkungen zu verstehen, mit denen es über sekundäre Krankheitsgewinne mit vielfältigen sozialen und politischen Prozessen verbunden ist, wird es kaum verwundern, wenn für mich die mechanistische Vorstellungen des Referenten wie die von den Genen als "Bauplan des Organismus" fehl am Platze sind. Sie entsprechen auch nicht den Erkenntnissen der modernen Biologie, denn diese versteht Gene heute ja eher als ein großes Bündel von Bauplänen, die erst in der Interaktion mit konkreten chemischen, biologischen und sozialen Konditionen in vielfältigen Modifikationen realisiert werden. Ein Phänomen, das selbst ein heutiger Computerspezialist gut versteht, dessen Arbeitsgebiet per se automatisch ablaufende Prozesse sind. Die Auflösung von Variabilitäten beim Hochfahren des Betriebssystems eines Computers gibt auch jedem interessierten Nutzer einen Eindruck davon, wenn sie nicht hinter einem Windows-Logo verborgen bleibt (und so ihrerseits KDR bedient). Dass in einem zur Designzeit letztlich textuell linearen Quellcode eine Vielzahl verschiedener Kontrollflüsse verborgen sind, jede If-Anweisung eine potenzielle Variabilität kodiert und deren Zusammenspiel - besonders bei repetitiven Elementen - die Zahl der potenziellen Möglichkeiten kombinatorisch explodieren lässt, ist jedem Programmierer klar (oder könnte es wenigstens sein). Das von diesen vielen im "Bauplan" = Quellcode verborgenen Möglichkeiten zur Laufzeit nur genau eine realisiert wird, ebenfalls. Bei komplexer Software ist dieses Herunterbrechen des Möglichkeitsraums auf eine konkrete Situation ein vielstufiger Prozess. Für komplexe gesellschaftliche Phänomene gilt das in noch viel größerem Maße.

Kurz, wo dialogisches Abwägen von Ambivalenzen am Platze gewesen wäre, wurde weitgehend aneinander vorbei geredet, obwohl man sich in wichtigen Punkten eigentlich einig war. Aber gerade die Differenzen in der Einheit lassen eine komplexe Analyse erst plastisch werden. Ich fühlte mich an die Metapher des Leuchtturms erinnert, die anderenorts im Zusammenhang mit ähnlichen Phänomenen der Rezeption der Arbeiten von John Holloway und Heinz Dieterich geprägt wurde: Dass sie wie Leuchtfeuer ein Stück des Wegs markieren, den jeder einzelne zurückzulegen hat, wenn wir gemeinsam zu einer humanen Gesellschaft kommen wollen, und wie Leuchtfeuer eine große orientierende Bedeutung besitzen auf dem Weg zu ihnen hin, diese aber verlieren, wenn wir an diesem Orientierungspunkt angekommen sind und beginnen, die nächste Marke anzupeilen.

Diesen Leuchtfeuereffekt hatte der Abend für die Mehrzahl der Anwesenden zweifellos.

Hans-Gert Gräbe, 24.3.2007


So unbenommen es dem um die schäbigen Reste der Meinungsfreiheit verdienten Veranstalter ist, seine eigene Wiedergabe meiner Ausführungen und erst recht seiner Diskussionseindrücke zu veröffentlichen, so nötig sind folgende Korrekturen, ohne welche ich in den Augen aller Fachleute lächerlich erscheinen müsste:

1) Die KDR wird nicht durch widersprüchliche Wertungen zweier Kognitionen provoziert, sondern durch deren Widerspruch untereinander (etwa: "wird von angesehener Seite als grossartig angepriesen/funktioniert nicht".). (Eine "vorbewusste Gefahr" hat in diesem Zusammenhang nichts zu suchen.)

2) Die Verdrängung wird natürlich nicht als Krankheitsgewinn bezeichnet, sondern ruft ihn nur hervor. Der stets gleiche primäre Krankheitsgewinn ist die - wenigstens vorübergehende - Ruhe vor der Aggression des "malignen Introjekts", d.h. des Überichs.

3) Nicht "schliesslich" werden Teile der eigenen Person der Wahrnehmung entzogen, sondern am Anfang des Prozesses (aus Angst u.ä.). Sonst wäre es unsinnig, von einer "Krankheit" zu reden, und dementsprechend erst recht von einem notwendig späteren "Krankheitsgewinn".

4) Das Genom enthält nicht den "Bauplan des Organismus", sondern eine Serie von chemischen Synthetisierungs"anweisungen". Diesen leider noch immer populären Irrtum habe ich nie verbreitet; siehe dazu sehr anschaulich R. Dawkins im "Blinden Uhrmacher" (auch für biologische Laien geeignet: Ausgabe Kindler, München 1986 p. 345-351, über die falsche Vorstellung von der „Blaupause“).

Fritz-Erik Hoevels, 26.3.2007