WAK.2007-06-21

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Unabgegoltenes im Kommunismus - Marx und Stirner
Diskussion auf der Basis eines Textes von B. Laska.
Einführung: Kurt W. Fleming, Stirner-Archiv Leipzig
Veranstaltung von WAK-Leipzig und Rohrbacher Kreis
21. Juni 2007, 18:00 Uhr, Harkortstraße 10

Ankündigung

Bereits einmal stand das Verhältnis von Marx und Stirner auf dem Programm des Gesprächskreises von WAK Leipzig, siehe WAK:2006-11-28. In der Frage des subtilen Verhältnisses zwischen Einfluss und Verdrängung Stirners auf Marx und den Traditionsmarxismus bündeln sich Fragen, die für einen "Sozialismus im 21. Jahrhundert" neu zu stellen und zu überdenken sind. Dass es sich auch hier um "Unabgegoltenes im Kommunismus" handelt - Titel einer weithin beachteten Schrift des philosophischen Arbeitskreises der RLS Sachsen - steht außer Frage. Die Parallelen zum Entmythologisierungsprogramm Rudolf Bultmanns, welches Werner Wittenberger mit der Veranstaltung am 24.4. - siehe WAK.2007-04-24 - in den Gesprächskreis einbrachte, sind augenfällig. Wir möchten mit unserer Diskussion die vielfältigen Gesprächsfäden aufnehmen und weiterspinnen.

Der Text "Den Bann brechen ! - Max Stirner redivivus" von Bernd Laska dient zugleich zur Vorbereitung auf eine Diskussion mit dem Autor selbst, die wir für den Herbst 2007 planen.

Bericht

Hans-Gert Gräbe, 22.06.2007

Der ambitionierte erste Teil des Titels - "Unabgegoltenes im Kommunismus" - knüpft an eine wichtige Diskussion innerhalb der RLS Sachsen an, die nach Momenten des Unabgegoltenen im theoretischen Diskurs der kommunistischen Bewegung suchte und - mit Blick auf die Beteiligten nicht überraschend - zunächst im Blochschen Erbe des "Prinzips Hoffnung" und der praxisphilosophischen Debatte der 1960er Jahre in der DDR fündig wurde [2]. Ein zweiter wichtiger Beitrag in dieser Richtung - chronologisch früher entstanden, aber später und noch unvollständig in die Debatte von WAK Leipzig einbezogen - ist [3] und die weiteren Texte dieses Sammelbands. Wobei es - dies als verspätete Replik auf eine Frage in der Diskussion - dabei nicht um "weiße Flecken" im Marxismus ging, sondern schlicht um die Frage nach Diskussionsfäden, die seinerzeit nicht oder nur ungenügend aufgenommen wurden, und um die mangelnde Stringenz von Argumentationen, die dazu führte, vor scheinbar verschlossenen Türen umzukehren oder durch weit offene nicht hindurchzuschreiten. Letzteres mag auch damit verbunden gewesen sein, dass die dahinter liegende Welt gar zu bizarr und absonderlich aussah, ja schlicht "nicht sinnvoll denkbar" erschien, was nicht unbedingt gegen diese Welt sprechen muss. Vielleicht schreckte ja auch nur, dass man dafür - in bester Marxscher Manier - ein wohlfeiles Gedankengebäude verlassen und in neue Räume hätte vorstoßen müssen.

Für die Suche nach Unabgegoltenem im Kommunismus ist das Verhältnis Marx - Stirner doppelt interessant. Neben der inhaltlichen Substanz der Stirnerschen Argumente sind es vor allem zwei Fragen, die im Text [1] von B. Laska aufgeworfen werden und die auch an diesem Abend im Vordergrund standen: Das eigentümliche Nicht-Verhältnis von Marx zu Stirner und das ebenso eigentümliche Nicht-Verhältnis der folgenden 150 Jahre Marxismus zu Stirner. Laska stellt diese Frage aus gutem Grund vor die substanzielle Erörterung von Stirners Gedankengebäude, und dieser Grund fand in der Diskussion seine Bestätigung: Stirners Art zu argumentieren sprengt auch heute noch so weit die Rahmen des "Üblichen", dass sich Stirner nicht wundern müsse, wenn ihm dies "um die Ohren" gehauen werde. Die Reaktion seiner Zeitgenossen sei vollkommen verständlich. "Ich verstehe die ganze Fragestellung nicht" - so brachte es einer der Teilnehmer für sich auf den Punkt - Marxens Theorie zur Beschreibung der Phänomene der kapitalistischen Gesellschaft habe sich bestens in der Praxis bewährt und nur auf dieser Basis lassen sich die vielfältigen Krisenphänomene verstehen, mit denen wir heute konfrontiert sind. Damit wären wir natürlich wieder auf den Beginn der Debatte im Gesprächskreis WAK Leipzig zurückgeworfen: Gibt es "Unabgegoltenes im Kommunismus"?

Sicher kann man dem Argument folgen, dass das Nichtverhältnis von Marx zu Stirner ein zwischen verschiedenen Schulen im akademischen Bereich vollkommen normales ist, wenn man beide im Kontext ihrer Zeit betrachtet. Diese war geprägt durch das "Haus Hegels" als übermächtigem Gedankengebäude jener Zeit, aus dem nicht nur diese beiden Junghegelianer meinten heraustreten zu müssen. Zu behaupten, dass Stirner dies konsequenter getan habe als Marx, geht von der Vorstellung aus, dass beide das Hegelsche Haus durch dieselbe Mauerbresche verlassen hätten. Diese implizite Annahme liegt wohl auch der Hoevels-Laska-Debatte [4] zugrunde, in der die Epitheta "Quietist" (Hoevels über Stirner in guter marxistischer Tradition) und "lärmender Quietist" (Laska über Marx mit Stirnerschem Sarkasmus) geprägt wurden. Letztere Einschätzung ist mit Blick auf die Wirkung der Marxschen Lehre sicher verfehlt und die an diesem Abend zu diesem Punkt dominierende Meinung kann man wie folgt zusammenfassen: Marx hat sich zwar auch an Stirner gerieben, in vielem war die Zeit aber einfach reif für einen Schritt über die noch stark feudalstaatlich geprägten Vorstellungen Hegels hinaus. Marx ist einen solchen gegangen und hat den Grundstein für ein neues Haus gelegt, in dem für Stirners Ansatz (noch) kein Platz war. Dass er sich fleißig auf den Bau des eigenen Hauses konzentrierte, sollte man Marx nicht vorwerfen, wenn man ihn als Menschen mit endlicher Lebenszeit und Schaffenskraft sieht und nicht als Gott.

Es bleibt natürlich die Frage, warum Marx in seinem Haus an der "Stirnerstelle" nicht einen Anbau vorgesehen hat, sondern nur glatte Mauer, bzw. warum niemand in 150 Jahren Marxismus auf die Idee kam, einen solchen Anbau anzugehen. Laska beschreibt am Beispiel Max Adlers, wie intensiv sich einzelne Marxisten an dieser Stelle einen Durchbruch vorstellen konnten, allein die Zeit war nicht nach Mauerdurchbrüchen. Und auch an diesem Abend konnte sich keine Mehrheit für einen solchen erwärmen - "undenkbar". Ist der Bruch Stirners mit Hegel so radikal, dass sich die zivilisatorische (!) Potenz vom "Einzigen und seinem Eigentum" auch fast 200 Jahre nach Hegel (noch) nicht denken lässt?

In den Stiftungsräumen sind über zwei Etagen Bilder des Malers Alex Bär ausgestellt, die ich vor einigen Tagen Gelegenheit hatte in Gänze zu besichtigen. Aus einem der Bilder schaut den Betrachter eine schwarze Katze an, die offensichtlich gerade einen Fisch gestohlen hat, denn sie trägt ihn quer im Maul. Fasziniert hat mich am Bild vor allem der sprechende Blick der Katze: "Trau dich ja nicht, mir den Fisch wegnehmen zu wollen." Die Quellen dieser unbändigen autonomen Lebenskraft, die bei Marx nur in bereits gebündelter Form als "Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse" vorkommt, sind Stirners Thema.

Sowohl Laskas vorsichtiger Zugang als auch ein Paar Sätze Original-Stirner legen nahe, dass sich beide bewusst sind, über "Undenkbares" nachzudenken. Meine Frage, ob diese "Undenkbarkeit" schlicht in der Unfähigkeit wurzelt, mit einer anderen epistemologischen Basis umzugehen, Stirner also anders tickt, als wir gewohnt sind zu denken (Epistemologie: Warum denken wir so, wie wir denken?), stieß auf wenig Verständnis. Die Frage entspringt aber meiner sehr persönlichen Erfahrung als ebenfalls anders "tickender" Naturwissenschaftler auf meinen philosophischen "Ausflügen". Die Reihen dort sind gewöhnlich so geschlossen, dass jemand mit einem anderen lebensweltlichen Hintergrund mit Skepsis und Vorurteilen aufgenommen wird - störe meine Kreise nicht. Vor allem stelle unsere Theorien mit deinen läppischen Praxiseinwänden nicht in Frage, selbst wenn sich mir manches des Feilgebotenen vor meinem Erfahrungshintergrund als zu l(s)eicht darstellt.

Im Rahmen des Gesprächskreises WAK Leipzig spielte das "Learn to think in a new way" als Untertitel der Potsdamer Denkschrift [5] schon einmal eine Rolle. Zwei Jahre nach ihrem Erscheinen ist die Denkschrift trotz der Reputation vieler ihrer Unterzeichner weitgehend aus dem öffentlichen Diskurs verschwunden. Damals stellten wir uns die Frage, wie denn die Denkschrift hätte aufgebaut sein müssen, um mehr Resonanz zu finden. Der Untertitel weist darauf hin, dass den Autoren das Dilemma bewusst ist, etwas sagen zu wollen, das die Adressaten nicht denken können, weil ja das "Learn to think in a new way" noch bevorsteht. Nach längerer Debatte waren wir uns einig, dass diese Denkblockaden auch durch ausgefeiltere Rhetorik nicht zu überwinden sind, sondern letztlich eines psychotherapeutischen Zugangs bedürfen. Hier spielen gute Texte im Sinne einer "Bibliotherapie" eine wichtige Rolle und vielleicht löst Stirners Text (und die Potsdamer Denkschrift) gerade eine solche Wirkung aus, wenn man die Argumente an sich heranlässt - eine Voraussetzung jeder erfolgreichen Therapie.

Dies scheint Stirner beim Zuschnitt des "Einzigen" berücksichtigt zu haben, und [1] legt die Vermutung nahe, dass auch Laska davon ausgeht, dass ohne bewusste Kenntnisnahme dieser Problemlage eine Sachdiskussion zum Scheitern verurteilt ist. Ob nach diesem unserem Präludium die Sachdiskussion gelingen kann, werden wir in einer weiteren Veranstaltung des Gesprächskreises WAK Leipzig (zusammen mit dem Rohrbacher Kreis und dem Max-Stirner-Archiv Leipzig) am 19.10.2007 mit Bernd Laska praktisch erproben. Dass durch die Mauerbresche "Stirner" die ganze bürgerrechtsliberale Theorie mit Wurzeln bis zu Rousseau und Querverbindungen zu einem "libertären Sozialismus" (Michael Brie vor einigen Jahren) oder dem "libertarian" Rick Stallman (Gründer und Vordenker der FSF [6]) sichtbar wird, macht das Unterfangen wirklich spannend. Der Sammelband [7], besonders die Texte von mir ("Chemnitzer Thesen") und Werner Wittenberger ("Askemos und Rousseau") zeigen, dass wir nicht von Ungefähr auf dieses Thema gestoßen sind.


Literatur

Weitere Literatur: